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Pragmatismus statt Visionen «Die grosse Koalition ist besser als ihr Ruf»

In Deutschland scheint niemand so richtig glücklich mit einer erneuten grossen Regierungskoalition zu sein. Doch die GroKo haben historisch betrachtet aber erfolgreicher politisiert als viele glauben, wie der Historiker Philipp Gassert von der Universität Mannheim erläutert.

SRF News: Wie schätzen Sie die Arbeit der bisherigen grossen Koalitionen aus CDU/CSU und SPD ein?

Philipp Gassert: Die grosse Koalition ist besser als ihr Ruf. Die vergangenen drei GroKo (1966-1969, 2005-2009 sowie 2013-2017) haben stets pragmatisch politisiert. Die Geschichte zeigt, dass bisherige grosse Koalitionen in Deutschland sehr effizient und erfolgreich gearbeitet haben.

Matthias Platzeck (SPD), Angela Merkel (CDU) und Edmund Stoiber (CSU) präsentieren 2005 den Koalitionsvertrag.
Legende: GroKo 2005: So schlecht, wie sie viele machen, waren grosse Koalitionen in Deutschland gar nicht. Imago Archiv

Welches sind historisch betrachtet die Erfolge und Chancen einer grossen Koalition?

Die grossen Koalitionen haben vor allem den Sozialstaat ausgebaut. Sie haben bei den grossen Risiken für die Bürger wie Ausbildung, Gesundheit, Arbeitslosigkeit oder Rente Fortschritte erzielt.

Grosse Koalitionen bauen vor allem den Sozialstaat aus.

Ebenfalls recht erfolgreich waren die GroKo im Bereich der Haushaltskonsolidierungen, also dem Schuldenabbau. Das Zurückfahren von Ausgaben ist historisch gesehen ebenfalls einer der Bereiche, in denen vor allem Grosse Koalitionen sinnvoll und gut zusammengearbeitet haben.

Weniger erfolgreich war die letzte Regierung in den Augen der Bevölkerung bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise. Müsste eine grosse Koalition nicht auch solche gesellschaftlichen Herausforderungen besser bewältigen?

Da müsste man eigentlich erwarten können. Allerdings wirkt ein hart verhandelter Koalitions-Kompromiss wenig visionär. Der nun ausgehandelte Koalitionsvertrag etwa sieht ein Einwanderungsgesetz vor, das eine maximale Anzahl Flüchtlinge pro Jahr definiert, die noch nach Deutschland kommen kann. Auch wird der Familiennachzug von Flüchtlingen begrenzt.

Die nächste grosse Koalition könnte sich an einer möglichen neuen Flüchtlingskrise entzweien.

Um diesen Kompromiss ist hart gerungen worden, und ich glaube nicht, dass eine kleine Koalition in Bezug auf die Einwanderungsdiskussion erfolgreicher gewesen wäre. Allerdings scheint die Einwanderungsfrage tatsächlich eine Art Sollbruchstelle zu sein. Es ist dieses Thema, das die deutsche Gesellschaft derzeit spaltet. Entsprechend könnte sich die nächste grosse Koalition an einer möglichen neuen Flüchtlingskrise entzweien.

GroKo-Kritiker befürchten, dass das Volk und die Opposition im Schatten einer so mächtigen Koalition kaum mehr zu Wort kommen. Sehen Sie diese Gefahr auch?

Sie kennen in der Schweiz seit Jahrzehnten eine Art grosse Koalition, eine Allparteien-Regierung. Trotzdem ist die Demokratie bei Ihnen nicht weniger lebendig. Auch in Deutschland wird die grosse Koalition die Demokratie nicht abwürgen – das war in der Vergangenheit nie so.

Die Gesellschaft mobilisiert jeweils gegen grosse Koalitionen.

Grosse Koalitionen führen vielmehr dazu, dass es ausserhalb des Parlaments zu vermehrter Opposition kommt: So kam es während der ersten deutschen GroKo zum gesellschaftlichen Aufbruch von 1968, im Zuge der letzten GroKo erstarkte nun der Protest am rechten Rand des Politspektrums. Die Gesellschaft mobilisiert also gegen grosse Koalitionen, deshalb kann man keineswegs von einem Demokratiedefizit sprechen.

Männer halten Transparent No Groko.
Legende: Jusos wollen eine Neuauflage der GroKo verhindern. Dabei ist diese gar nicht so schlecht wie ihr Ruf. Keystone

Es ist nun aber historisch das erste Mal, dass auf eine grosse Koalition gleich wieder eine solche folgt, und das erst noch zwischen zwei Parteien, die bei den Wahlen Anteile verloren. Was bedeutet das aus Sicht der Wähler?

Es ist tatsächlich nicht erfreulich, dass eine grosse Koalition auf die nächste folgt. Eine GroKo sollte in Deutschland bloss in Krisenzeiten zum Zug kommen. Allerdings hat die Parteien-Aufsplitterung – mittlerweile gibt es sechs Fraktionen im Bundestag – dazu geführt, dass nun schon wieder eine GroKo die einzige Möglichkeit bleibt. Dies, nachdem eine Jamaika-Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grünen trotz langer Verhandlungen gescheitert ist. Es ist dadurch eine Art Zwang zur Bildung einer erneuten grossen Koalition entstanden. Zumal sich auch niemand traut, eine Minderheitsregierung zu bilden.

Das Gespräch führte Hanna Jordi.

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