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Proteste in den USA Eine Nation glaubt zu ersticken

Die Bilder sind dramatisch: Ausschreitungen, Tränengas, geplünderte Läden, brennende Autos – in Minneapolis, Los Angeles, Atlanta, New York oder vor dem Weissen Haus. Militärpolizei in mehr als der Hälfte der Bundesstaaten und über 2500 Verhaftungen. Aufgewühlte Menschen. Verletzte auf beiden Seiten, drei Todesopfer. Chaos. Rage.

Was dabei vergessen geht: Die Mehrzahl der Proteste ist friedlich, doch niemand berichtet gerade darüber. Die Kameras sind auf die paar hundert gewalttätigen Protestler gerichtet, die an verschiedenen Schauplätzen in den USA jeweils die Auseinandersetzung mit den Sicherheitskräften suchen. In Minneapolis fotografieren die angereisten Journalisten dieselbe geplünderte Ladenstrasse wieder und wieder. Ja, die Ausschreitungen sind real – aber sie sind auch lokal.

Hupkonzerte dringen tiefer

Breiter, tiefer ist das Protestpotential der Masse der friedlichen Demonstrierenden. Sie treibt eine diffusere, aber nicht mindere Wut auf die Strasse. In Washington D.C. veranstaltete die Organisation «Black Lives Matter» beispielsweise eine Autokarawane, #WeKeepUsSafe lautete das Motto. Frauen, Männer, weiss, schwarz, alt, jung hupten und fuhren in vielen hunderten von Autos durch die Innenstadt. «Wir konnten nicht mehr zu Hause sitzen und die News schauen», sagen sie. Oder einfach: «Wir haben die Nase voll.» Viele halten Präsident Trump für einen gefährlichen politischen Brandstifter. Alle sagen, sie seien verstört, seit sie das Video gesehen hätten, in dem der des Mordes angeklagte Polizist aus Minneapolis dem schwarzen Bürger George Floyd das Knie in den Nacken drückt, bis er erstickt.

Seine letzten Worte: «I can’t breathe» werden zum Kampfruf der Menschen in den USA, die zunehmend unter akuten Erstickungsgefühlen leiden. Sie können nicht mehr atmen in einer politischen Atmosphäre des Hasses und der Menschenverachtung. Sie haben während der Pandemie ihre Jobs verloren oder wissen nicht, wie es mit der Ausbildung weitergeht. Sie kommen aus der monatelangen Lockdown-Isolation und haben Angst, sich anzustecken. Sie fragen sich: «Warum müssen wir das ertragen?». Sie protestieren gegen exzessive und rassistische Polizeigewalt, für George Floyd und die Rückkehr der amerikanischen Zuversicht.

Isabelle Jacobi

USA-Korrespondentin, SRF

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Nach dem Studium in den USA und in Bern arbeitete Jacobi von 1999 bis 2005 bei Radio SRF. Danach war sie in New York als freie Journalistin tätig. 2008 kehrte sie zu SRF zurück, als Produzentin beim Echo der Zeit, und wurde 2012 Redaktionsleiterin. Seit Sommer 2017 ist Jacobi USA-Korrespondentin in Washington.

Tagesschau, 31.05.2020

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