SRF News: Inga Rogg, wer war da heute auf den Strassen von Istanbul unterwegs?
Inga Rogg: Im Grunde genommen jeder, der mit der Regierung und der Politik von Präsident Erdogan unzufrieden ist: Oppositionelle, Gewerkschafter, Frauenrechtlerinnen, Journalisten, Juristen oder auch beispielsweise Tierschützer.
Angeführt wurde dieser «Marsch der Gerechtigkeit» von Kemal Kilicdaroglu, dem Chef der grössten türkischen Oppositionspartei CHP. Er galt bisher als altmodischer Bürokrat und vor allem als wenig charismatisch. Wie hat er das geschafft, so viele Menschen zu begeistern?
Am Anfang wurde das alles ein bisschen belächelt. Zum Teil auch von seinen eigenen Wählern – das sei zu spät und zu wenig, was Kilicdaroglu da mache. Und jetzt geht dieser 69-jährige Mann hin und marschiert durchs ganze Land – von der Hauptstadt bis nach Istanbul. Bei Wind und Wetter. Und das, ohne Parteipolitik zu machen, sondern mit einer ganz einfachen Botschaft: Wir wollen Gerechtigkeit. Das hat sehr viele Leute fasziniert, die sich dem Marsch dann auch angeschlossen haben.
Viele haben auch gesagt: Es ist eine Art Barriere durchbrochen worden. Die Angst, die in diesem Land herrscht, ist durchbrochen worden. Und Kilicdaroglu hat erfolgreich versucht, sich als ein Politiker zu präsentieren, der alle repräsentiert und nicht nur seine eigene Parteibasis.
Präsident Erdogan hat den Marsch nicht verboten. Warum nicht?
Er hat wohl mit dem Gedanken gespielt. Davon abgehalten hat ihn wohl, dass es auch unter seinen Unterstützern viele gibt, die eine starke Opposition wollen. Auch viele AKP-Anhänger sagten: Kilicdaroglu ist einer der wichtigsten Politiker des Landes und er muss in der Lage sein, friedlich durchs Land zu marschieren.
Erdogan sagt aber mittlerweile: Die CHP sei keine Partei, sondern eine terroristische Organisation. Heisst das: Beim Präsidenten und seiner AKP steigt die Nervosität?
Erdogan ist mit Sicherheit nervös. Bei ihm dreht sich alles um die Wahl in zwei Jahren. Er hat ja im April das Referendum, das ihm unglaublich viel Macht gibt, gewonnen. Aber in zwei Jahren muss er auch die Wahl gewinnen und er muss mehr als 50 Prozent erreichen; das sagt er immer wieder. Deshalb hat er den Marsch vielleicht auch zugelassen. Er kann jetzt sagen: Schaut her, es gibt doch bei uns Demokratie. Ich hab diese doch Leute marschieren lassen. Aber die Frage ist natürlich: Wird er noch anders reagieren?
Erdogan kann jetzt sagen: Schaut her, es gibt doch bei uns Demokratie. Ich hab diese doch Leute marschieren lassen.
Der Marsch der Gerechtigkeit darf als Erfolg für die türkische Opposition verbucht werden. Und jetzt – wie geht das weiter?
Das ist jetzt die grosse Frage – auch für die Opposition. Diese ist zerstritten. Das ermöglicht es Erdogan, diese grosse Machtfülle auf sich zu vereinigen. Ganz konkret steht als nächstes die Erinnerung an den Putschversuch vor einem Jahr an. Da wird es ab nächster Woche grosse Feiern geben, die von der Regierung abgehalten werden. Sicher ist: Erdogan wird die Feiern nutzen, um seine Anhänger auf die Strasse zu bringen und zu sagen: Wir sind mehr. Aber die Frage ist: Wie übersetzt das Bündnis von Kilicdaroglu die Unterstützung der letzten Tage in Politik? Und das ist im Moment noch überhaupt nicht abzusehen.
Das Gespräch führte Samuel Wyss.