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Pulverfass Idlib «Eine Eskalation ist kaum mehr aufzuhalten»

Der Konflikt zwischen Syrien und der Türkei in der nordsyrischen Region Idlib droht sich zu verschärfen: Nach dem Tod von mehr als 30 türkischen Soldaten in Idlib durch syrischen Beschuss verlangt Ankara jetzt Unterstützung der Nato. Als Druckmittel will die Türkei die Grenze für syrische Flüchltinge in Richtung Europa öffnen. SRF-Türkei-Mitarbeiter Thomas Seibert bezweifelt, dass eine Eskalation noch verhindert werden kann.

Thomas Seibert

Journalist in der Türkei

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Thomas Seibert verdiente sich seine journalistischen Sporen bei der «New York Times» und den Nachrichtenagenturen Reuters und AFP, bevor er 1997 als freier Journalist in die Türkei ging. Nach einem kurzen Zwischenhalt als Berichterstatter in den USA kehrte er im Juni 2018 nach Istanbul zurück.

SRF News: Was lässt sich Gesichertes über die Kampfhandlungen zwischen den syrischen und türkischen Truppen in Idlib sagen?

Thomas Seibert: Nach türkischen Angaben wurden am Donnerstagabend zwei Gebäude südlich der Provinzhauptstadt Idlib angegriffen, in denen türkische Soldaten untergebracht waren. Dabei starben laut neusten Angaben mindestens 34 Türken, mehr als 30 wurden verletzt.

Wie hat die Türkei auf den Angriff reagiert?

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan berief sogleich eine Sitzung seiner wichtigsten Berater ein. Auch die politische Opposition ist in Aufruhr, sie verlangt umgehend eine Sitzung des Parlaments. Ausserdem hat die Regierung offenbar entschieden, ab sofort keine syrischen Flüchtlinge mehr aufzuhalten, die nach Europa wollen.

Moskau stellt die Sache anders dar

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Nach russischen Angaben waren die türkischen Soldaten zum Zeitpunkt des Angriffs mit der Al-Kaida-nahen islamistischen Miliz Haiat Tahrir al-Scham in der Region Idlib unterwegs. Die Rebellen hätten eine grossangelegte Offensive auf die syrischen Regierungstruppen versucht, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Dabei seien auch türkische Soldaten, die sich «unter den Kampfeinheiten der terroristischen Gruppen befanden», unter Beschuss der Syrer gekommen. Die türkische Seite habe die Präsenz ihrer Truppen in den betreffenden Gebieten nicht mitgeteilt. (dpa)

Macht Erdogan jetzt also seine Drohung wahr und öffnet die Tore nach Europa?

Laut Medienberichten sind bereits erste Flüchtlingsgruppen an der griechischen Landgrenze aufgetaucht, nachdem die türkische Regierung schon gestern angekündigt hatte, die Tore öffnen zu wollen, falls der Druck in Idlib zunehmen sollte.

Ankara will Europäer und Nato dazu bringen, ihr bei der Militäraktion in Idlib beizuspringen.

Dass diese Entscheidung nun gefallen ist, ist klar politisch zu werten, denn gleichzeitig bleibt die türkische Grenze zu Syrien geschlossen. Es kommen derzeit also keine neuen Flüchtlinge in die Türkei. Mit der faktischen Grenzöffnung will Ankara die Europäer und die Nato unter Druck setzen, um ihr bei ihrer Militäraktion in Idlib beizuspringen.

Ist mit Blick auf die neueste Entwicklung eine weitere kriegerische Eskalation in Idlib und Syrien überhaupt noch zu verhindern?

Im Moment sieht es tatsächlich schlecht aus, denn auch die diplomatischen Bemühungen sind in den letzten Tagen ins Stocken geraten. Erdogan hätte sich nächste Woche mit Russland, Deutschland und Frankreich an einen Tisch setzen wollen, doch Russland lehnt ein solches Gipfeltreffen ab.

Es gibt eigentlich keinen Spielraum für eine diplomatische Lösung.

Die Interessen der Türkei und jene Russland kollidieren in Idlib frontal: Die Türken wollen die syrischen Kräfte in Idlib aufhalten, Russland und Syrien dagegen wollen Idlib vollständig einnehmen. Es gibt also keinen Spielraum für eine diplomatische Lösung. Möglicherweise kann man sich noch auf eine Waffenruhe einigen, doch ob diese lange halten würde, ist äusserst fraglich.

Das Gespräch führte Claudia Weber.

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