Zum Inhalt springen

Rechtsrutsch in Österreich Ein verhinderter Kanzler und eine Koalition der Verlierer?

Die Rechtspopulisten um Herbert Kickl werden erstmals stärkste Kraft in Österreich. ÖVP und SPÖ schwächeln – und könnten künftig trotzdem regieren.

Die Zahlen: Die FPÖ ist erstmals stärkste politische Kraft in Österreich. Die Rechtspopulisten erreichten bei der Parlamentswahl im vorläufigen Endergebnis laut Innenministerium rund 29 Prozent der Stimmen. Dies ist ein Plus von 13 Prozentpunkten gegenüber 2019 und ihr historisch bestes Ergebnis. Die Kanzlerpartei ÖVP verlor gegenüber den letzten Wahlen rund 11 Prozent. Die SPÖ fiel leicht auf ein Rekordtief von 21 Prozent.

Der verhinderte Kanzler: Doch dem klaren Wahlsieger, Herbert Kickl, ist als FPÖ-Chef der Weg ins Kanzleramt wohl versperrt. Die konservative ÖVP als einziger denkbarer Koalitionspartner weigert sich weiter, mit dem rechten Politiker zusammenzuarbeiten.

Kickl nach seinem Wahlsieg
Legende: Trotz des Siegs dürfte es für Kickl sehr schwer werden, nächster Kanzler zu werden. Alle Parteien lehnen bisher eine Zusammenarbeit mit dem 55-Jährigen ab. Keystone/EPA/Filip Singer

Kickl sieht den historischen Wahlsieg seiner rechten Partei als Signal für einen Richtungswechsel in Österreich. «Der Wähler hat heute ein Machtwort gesprochen», sagte er in einer ersten Reaktion. Die Wähler hätten «ein klares Bekenntnis dafür abgegeben, dass es so nicht weitergehen kann in diesem Land.»

Bundespräsident auf Konfrontation mit Kickl

Box aufklappen Box zuklappen
Alexander van der Bellen.
Legende: Bundespräsident Alexander van der Bellen. Keystone/APA/Georg Hochmuth

Der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen muss den Auftrag zur Regierungsbildung nicht zwingend der stimmenstärksten Partei übertragen. Der ehemalige Grünen-Chef hat immer wieder seine Kritik an politischen Positionen der FPÖ in Sachen EU, Migration und Ukraine-Krieg deutlich gemacht.

Van der Bellen pocht nun auf die Wahrung der liberalen Demokratie im Land. Bei der Regierungsbildung werde er darauf achten, dass «die Grundpfeiler unserer liberalen Demokratie respektiert werden», sagte der ehemalige Grünen-Chef. Dazu gehörten Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Menschen- und Minderheitenrechte, unabhängige Medien und die EU-Mitgliedschaft, betonte Van der Bellen. «Das sind Fundamente, auf denen wir unseren Wohlstand und unsere Sicherheit aufgebaut haben.» 

Der Bundespräsident kündigte an, persönlich mit den im Nationalrat vertretenen Parteien Gespräche zu führen. «Dabei werde ich versuchen, auszuloten, welche tragfähigen Kompromisse es geben könnte. Wer mit wem kann und wer was will für Österreich, das wird nun die nächste Zeit zeigen.»

Die Koalition der Verlierer: Es gilt als wahrscheinlich, dass Kanzler Karl Nehammer den Auftrag bekommt, eine Regierungskoalition zu schmieden. Die Alternative zur FPÖ ist die SPÖ. Allerdings gilt ein Bündnis als schwierig, weil SPÖ-Chef Andreas Babler die Sozialdemokraten mit Forderungen wie der nach einer 32-Stunden-Woche weit nach links gerückt hat. Ob sich Babler angesichts des Ergebnisses im Amt halten kann, ist aber offen.

Die Zäsur: Das Wahlergebnis ist gleich in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur für Österreich. Noch nie waren die machtverwöhnte ÖVP und die SPÖ zeitgleich so schwach. Die Sozialdemokraten erreichten erstmals nur Platz drei, die ÖVP an der Spitze verbuchte eines ihrer schlechtesten Wahlresultate.

Nach Erkenntnissen der Wahlforscher profitierte die FPÖ enorm von der grossen Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Österreich steckt in einer Wirtschaftsflaute, die Arbeitslosigkeit wächst. Zudem gehörte die Alpenrepublik in den vergangenen Jahren zu den Ländern in der EU mit besonders hoher Inflation. Ausserdem gilt der strikte Anti-Migrationskurs der FPÖ als populär.

In Österreich herrscht Unzufriedenheit

Box aufklappen Box zuklappen
Am Wahlabend formierten sich in Wien Proteste gegen die FPÖ.
Legende: Am Wahlabend formierten sich in Wien Proteste gegen die FPÖ. Reuters/Leonhard Foeger

Die Parlamentswahl in Österreich war von Unzufriedenheit und dem Wunsch nach Veränderung geprägt. Das geht aus Daten des Foresight Instituts im Auftrag des Senders ORF hervor. Sechs von zehn Befragten sind überzeugt, dass sich das Land negativ entwickelt – fast doppelt so viele wie bei der Nationalratswahl 2019. Die rechte FPÖ hat der Umfrage zufolge am meisten von den Sorgen der Menschen profitiert.

Für viele Bürgerinnen und Bürger war die Migration ein wichtiges Wahlmotiv, noch vor der Inflation und Sicherheitsfragen. Die Person Herbert Kickl sei bei den Wählern nicht entscheidend gewesen, so die Wahlforscher. Die Regierung aus konservativer ÖVP und den Grünen war bei den Wählerinnen und Wählern zuletzt sehr unpopulär – sechs von zehn der Befragten zeigten sich wenig oder gar nicht mit der Arbeit der Koalition zufrieden.

Der Rechtsruck: Die deutlichen Zugewinne der FPÖ liegen im europaweiten Rechtstrend. Quer durch Europa haben rechte Parteien Zulauf bekommen, etwa in den Niederlanden Geert Wilders und seine rechtsradikale Partei für die Freiheit (PVV). In Deutschland erzielte die AfD grosse Erfolge bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. AfD-Chefin Alice Weidel schickte umgehend Gratulationen nach Wien:

Auch die italienische Rechtspartei Fratelli d'Italia (Brüder Italiens) mit Giorgia Meloni an der Spitze oder das rechtsnationale Rassemblement National (RN) mit Marine Le Pen in Frankreich erfreuen sich grossem Zuspruch.

Das Programm: In ihrem Wahlprogramm hatte die FPÖ unter dem Motto «Festung Österreich – Festung Freiheit» für eine extrem restriktive Migrationspolitik geworben. Die Partei fordert eine Rückführung von Migranten in ihre Heimatländer und wünscht sich als Gegenentwurf zur international vielfach angestrebten Diversität «Homogenität» in der Gesellschaft.

Aussenpolitisch sieht die FPÖ die EU äusserst kritisch. Gegenüber Russland fährt sie trotz des Ukraine-Kriegs einen eher wohlwollenden Kurs und sieht kein Problem in der Abhängigkeit Österreichs von russischem Gas. Unter Kickls Ägide hat die FPÖ auch ihre Distanz zu den als rechtsextrem eingestuften Identitären aufgegeben.

Tagesschau, 29.09.2024, 19:30 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel