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Rechtsstaat in Georgien Der «Georgische Traum» hat die Gesetze verschärft

Seit bald sechs Monaten demonstrieren in Tiflis täglich Menschen gegen den autoritären Kurs der Regierungspartei «Georgischer Traum». Nun hat diese zahlreiche neue Gesetze verabschiedet.

Wer in Tiflis an den Protesten war, nimmt Anrufe von Unbekannt nicht an und öffnet die Tür nicht, wenn jemand unerwartet klopft. «Am Parlamentsgebäude hängt eine hochauflösende Kamera», erklärt Ioseb Edischeraschwili vom Verband Junger Juristen Georgiens. «So identifizieren sie Leute und verteilen Bussen wegen Verkehrsbehinderung. Einige Protestierende wurden siebenmal oder mehr gebüsst.»

Das Ordnungsrecht wurde immer zur Repression missbraucht, egal, wer an der Macht war.
Autor: Ioseb Edischeraschwili Verband Junge Juristen Georgien

Das ist verheerender, als es klingt. Die Regierung hat solche Bussgelder jüngst massiv erhöht, auf 5000 Lari – umgerechnet rund 1500 Franken oder mehr als das Vierfache des Medianlohns in Georgien. Das ist, wie wenn man in der Schweiz wegen Verkehrsbehinderung 30'000 Franken Busse zahlen müsste. Sieben Bussen sind für viele schlicht ruinierend.

Kodex aus Sowjetzeiten

Nicht nur das kritisiert Jurist Edischeraschwili: Die Polizei gebe keine Vorwarnung, den Weg freizumachen und sperre bei Protesten oft selbst die Strasse ab.

Mann mit Brille sitzt an Tisch in Besprechungsraum.
Legende: Ioseb Edischeraschwili vom Verband Junger Juristen Georgiens sagt, sein Verband stelle seit letztem November immer wieder Fälle systematischer Gewalt durch Polizisten fest. SRF/Calum MacKenzie

«Das Ordnungsrecht wurde immer zur Repression missbraucht, egal, wer an der Macht war», so Edischeraschwili. Der Kodex stamme aus Sowjetzeiten. «In Georgien gilt die Versammlungsfreiheit», sagt der Jurist.

Protestierende stehen in gelbem Rauch von Signalraketen
Legende: Die Proteste gegen die Regierung in Georgien dauern seit einem halben Jahr an. Dieses Bild stammt von Ende März. Keystone/ ZURAB TSERTSVADZE

«Verkehrsbehinderung ist es nur, wenn einzelne Menschen die Strasse blockieren. Bei den Protesten sind aber oft Tausende Leute. Weder Behörden noch Justiz machen klar, wann eine Demo zur Verkehrsbehinderung wird. Aber sie stecken ohnehin unter einer Decke.»

Vor dem Hintergrund der Proteste hat die Regierungspartei «Georgischer Traum» das Gesetz im Schnellverfahren verschärft. Es gibt hohe Bussen auch für Gesichtsmasken oder politische Graffiti sowie jahrelange Haft für Störung des öffentlichen Friedens oder Widerstand gegen Polizeibeamte.

Unruhen «aus dem Ausland»

Es gehe um Gewaltprävention, sagt Lewan Machaschwili, Abgeordneter des «Georgischen Traums». «Es geht zu weit, mit Molotowcocktails um sich zu werfen. Nach den Silvesterkrawallen in Deutschland wurde auch hart durchgegriffen.»

Hier darf jeder seine Meinung sagen, aber nicht mit Molotowcocktails.
Autor: Lewan Machaschwili Abgeordneter des «Georgischen Traums»

Die Unruhen würden aus dem Ausland orchestriert, sagt Machaschwili – die Lieblingserzählung der Regierung, mit der sie die Unterdrückung von Opposition und Zivilgesellschaft rechtfertigt.

Mann im Anzug vor georgischer und EU-Flagge.
Legende: Der Abgeordnete Lewan Machaschwili verteidigt die neue Bussenregelung, die Proteste praktisch verhindert. srf/Calum MacKenzie

Mit der Realität der Proteste stimmt das kaum überein. Beweise für ausländische Anstifter gibt es keine, Gewalt – geschweige denn Molotowcocktails – gab es seit den ersten Protesten nicht mehr. 

«Hier darf jeder seine Meinung sagen», so Machaschwili vom «Georgischen Traum».

Jurist Edischeraschwili kennt die Szenen, die gemeint sind. «Unsere Juristinnen erzählen von Blutlachen in den Haftzentren», sagt er. Seit November beobachte sein Verband systematische Gewalt durch Polizisten bei Festnahmen oder durch Unbekannte, die prominente Regierungskritiker abfangen und verprügeln würden.

Keine Konsequenzen für die Täter

«Gewisse Exzesse kann es geben», sagt Edischeraschwili. «Doch nach einem halben Jahr ist nichts geschehen, obwohl einige Täter auf Video identifiziert wurden. Entweder sind die Behörden total inkompetent – oder sie decken diese Leute.»

Georgien galt einst als demokratisches Vorbild in der Region und strebt zumindest offiziell den EU-Beitritt an. Doch in Sachen Rechtsstaatlichkeit werde es wohl erst noch schlimmer, bevor es besser werde. Eine genauere Prognose wagt Edischeraschwili nicht.

Rendez-vous, 30.04.3035, 12:30 Uhr

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