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Referendum in der Türkei «Führerkult schwächt Parlament und Parteien»

Das Referendum in der Türkei ist zugunsten von Staatspräsident Reçep Tayyip Erdogan ausgegangen. Man könnte meinen, auch zugunsten seiner Partei, der AKP. Dem widerspricht Luise Sammann, Journalistin in Istanbul.

Luise Sammann

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Die Journalistin Luise Sammann lebt und arbeitet seit 2009 in der Türkei und berichtet von dort für deutsche Medien über das Land sowie den Nahen Osten. Auch bei Radio SRF ist sie immer wieder zu hören.

SRF News: Sie sagen, die AKP gewinne durch die Annahme der Verfassungsreform nicht an Macht. Im Gegenteil, sie werde geschwächt. Warum?

Das System, welches Erdogan durch das Referendum jetzt einführen wird, schwächt alle Parteien in der Türkei. Denn es ist ein Präsidialsystem. Es verlagert den Fokus weg vom Parlament und den Parteien, hin zum allmächtigen Präsidenten. Da dieser die AKP, aus der er einst hervorgegangen ist, in den Schatten stellt, gilt dies für diese Partei besonders: Man kann nicht sagen, dass sie durch das Referendum gestärkt wurde.

Ist die AKP, wie man sie kannte, inzwischen tot?

Das kann man so sagen. Und zwar nicht erst jetzt aufgrund des Referendums, sondern seit einer ganzen Weile. Man konnte in den letzten Monaten und Jahren beobachten, dass die AKP-Anhänger zu Erdogan-Anhängern geworden sind. Das ist ein grosser Unterschied zu den Anfängen der AKP als islamischer Bewegung. Bei den Menschen, die die Partei im Jahr 2001 gegründet haben, standen die Reformideen im Vordergrund. Davon ist heute nichts mehr zu sehen und zu spüren. Inzwischen ist alles auf Erdogan ausgerichtet. Wenn er sagen würde, wir lösen die AKP auf, wäre das für die meisten Anhänger in Ordnung. Für sie zählt, dass Erdogan da ist.

Wenn Erdogan sagen würde, wir lösen die AKP auf, wäre das für die meisten Anhänger in Ordnung.

Wie erleben Sie den Personenkult um Erdogan?

Sobald man in Istanbul auf die Strasse geht, bekommt man das zu spüren. Durch den Abstimmungskampf ist die ganze Stadt zugepflastert mit Erdogan-Porträts. Hochhäuser sind in sein Porträt eingewickelt. Bei sogenannten Meetings jubeln bis zu zwei Millionen Menschen Erdogan zu.

Viele sagen mir, sie würden sterben für Erdogan, sie würden alles für ihn tun.

Das ist etwas, was wir in Europa als nichts anderes als Führerkult bezeichnen würden. Die Menschen rufen in Sprechchören seinen Namen. Sie haben sein Konterfei auf Kopftüchern, Anstecknadeln und T-Shirts gedruckt. Zahlreiche Familien geben ihren Babys die Vornamen des Präsidenten, Recep Tayyip. Viele sagen mir, sie würden sterben für Erdogan, sie würden alles für ihn tun. Er sei ihr Vater. Das ist eine Liebe, die man aus europäischer Perspektive rational nicht verstehen kann.

Aufgrund der Reform darf Erdogan wieder einer Partei angehören. Er wird wohl sogar Vorsitzender der AKP. Was würde das für die Partei bedeuten?

Das macht keinen grossen Unterschied. Erdogan ist in Grunde nie vom Vorsitz der AKP zurückgetreten. Mit seiner Wahl zum Präsidenten zwar offiziell schon, weil er das musste. Aber wer seinen Reden lauscht, merkt, dass er stets der Chef der AKP, des ganzen islamisch-konservativen Lagers geblieben ist. Er hat auch immer wieder ganz offen Wahlkampf gemacht für die AKP, obwohl er gemäss der türkischen Verfassung eigentlich ein neutraler Präsident hätte sein müssen. Insofern ist das eine reine Formalität. Jeder in der Türkei weiss, dass alles, was in der AKP geschieht, auf Erdogan ausgerichtet ist und nur auf seinen Goodwill hin passiert.

Das ist eine Liebe, die man aus europäischer Perspektive rational nicht verstehen kann.

Die AKP wird also weiter existieren, um Erdogan Rückendeckung zu geben?

Ja und nein. Sie ist wie eine Hülle von dem, was sie einst war. Ich glaube nicht, dass sie morgen schon abgeschafft wird von Erdogan, denn er braucht diese Partei. Man muss bedenken: Erdogan hat sich nie selbst als Diktator gesehen. Er sieht sich als Demokraten. Er wurde gewählt, das ist ganz wichtig. Und er ist immer bemüht, die demokratische Ausrichtung des Landes zu betonen. Dazu braucht er – wie andere Führer seines Kalibers vor ihm – eine Partei im Hintergrund. Sie gibt den Menschen das Gefühl, teilzuhaben. Das ist ein wichtiger Punkt, auf den er seine Macht stützt.

Das Gespräch führte Claudia Weber.

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