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Regierung in Frankreich «Der Präsident in Frankreich sieht sich als Machthaber»

Trotz verlorener Wahlen wolle Präsident Macron weiter im Zentrum der Macht bleiben, sagt Frankreich-Expertin Kempin.

Vor sechs Wochen hat Frankreich gewählt. Stärkste Kraft wurde das Links-Bündnis Nouveau Front Populaire, vor den Mitte-Kräften von Präsident Emmanuel Macron und vor den Rechtsnationalen von Marine Le Pen. Kein Lager verfügt über eine absolute Mehrheit, um eine Regierung zu bilden. Daher führt Macrons alte Regierung derzeit noch die Geschäfte. Macron hat sich nun mit dem Linksbündnis getroffen, um Gespräche über eine neue Regierung zu führen. Frankreich-Expertin Ronja Kempin erläutert die Sachlage.

Ronja Kempin

Expertin Stiftung für Wissenschaft und Politik

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Ronja Kempin ist seit 2003 Mitglied der Stiftung für Wissenschaft und Politik in Berlin. Sie ist Expertin für die deutsch-französischen Beziehungen auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik.

SRF News: Wie könnte die neue französische Regierung aussehen?

Ronja Kempin: Die politische Linke hat eine Kandidatin als Premierministerin aufgestellt. Doch deren Ernennung zögert Emmanuel Macron hinaus. Er würde selbst gerne einen Premierminister oder eine Premierministerin benennen, jemanden, der oder die das Machtzentrum bei ihm – beim Präsidenten – belässt und nicht in das Parlament verrückt.

Wird ihm das gelingen?

Das ist die Gretchenfrage. Die Linke ist einheitlich geblieben, während die Stimmen im Lager des Präsidenten vielfältiger sind. Einige sagen, er solle versuchen, von Projekt zu Projekt mit Mehrheiten zu regieren, mit einem Premierminister oder einer Premierministerin, der oder die im Parlament nicht durchfällt. Aber sie wollen keinen fixen Koalitionsvertrag. Andere sagen, der Präsident solle sich raushalten. Er solle dem Parlament das Heft des Handelns in die Hand geben und aus dem Parlament heraus Gesetze erarbeiten lassen. Das wäre eine Umkehr des politischen Systems der Fünften französischen Republik.

In Frankreich sieht sich der Präsident als Machthaber und in seinem Selbstverständnis hat die Regierung nur die Aufgabe, die Agenda des Präsidenten umzusetzen.

Das Lager von Macron hat bei den Wahlen verloren. Eigentlich müsste das Linksbündnis – die stärkste Kraft – den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten?

In Frankreich ist es etwas anders. Der Präsident sieht sich als Machthaber und in seinem Selbstverständnis hat die Regierung nur die Aufgabe, die Agenda des Präsidenten umzusetzen. Das geht nicht mit einer Linken, die selbst einen Gestaltungsanspruch hat, insbesondere mit Blick auf die Rentenreform, die Macron durchgeführt hat.

Koalitionen über Parteigrenzen hinweg sind in Frankreich unüblich. Kann eine solche zustande kommen, vielleicht unter Leitung des Linksbündnisses?

Das ist im Moment schwierig, auch für Macron ist die Aufgabe fast nicht zu lösen. Er hatte darauf spekuliert, dass sich die Sozialisten aus dem Linksbündnis herauslösen lassen, weil es wenig Überschneidungen mit der extremen Linken gibt. Aber die Sozialisten haben sich nicht herauslösen lassen, genauso wenig wie auf der anderen Seite des politischen Spektrums die Konservativen, die Gaullisten. Auch sie sehen sich nicht als die Mehrheitsbeschaffer des Präsidenten.

Die Übergangsregierung kann nur Politik verwalten, aber nicht mehr gestalten.

In Frankreich richten die Parteien den Blick schon in Richtung Präsidentschaftswahl 2027. In den Augen vieler hat der Präsident seinen politischen Kredit verspielt und das Land ohne Not in eine politische Phase nicht nur des Unbekannten, sondern auch der Instabilität geführt.

Auch am Montag sind noch Treffen mit Vertreterinnen und Vertretern der politischen Lager angesagt. Wie lange kann Macron warten, bis er jemandem den Regierungsauftrag erteilt?

Formal gibt es keine zeitlichen Fristen. Es ist aber so, dass ihn der politische Kalender dazu drängt, bald eine handlungsfähige Regierung zu benennen und agieren zu lassen. Die Übergangsregierung kann nur Politik verwalten, aber nicht mehr gestalten.

Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.
                

Echo der Zeit, 23.08.2024, 18 Uhr ; 

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