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Reportage aus Mossul «Entweder wir gewinnen – oder wir sterben»

Fünf Tage lang waren Nahost-Korrespondent Pascal Weber und Kameramann Diego Wettstein im befreiten Ost-Teil von Mossul unterwegs. Eine Reise in eine vom Krieg gebeutelte Stadt, in der die irakische Armee den Sturm auf die letzte vom IS gehaltene Bastion vorbereitet.

Laut schallt der Ruf des Muezzin durch die Stadt. Es ist das erste offizielle Freitagsgebet, seit der Ostteil der Stadt befreit wurde. Die Gesichter der Männer wirken eher müde, als erlöst – und trotzdem: Für viele markiert dieser Tag einen Neuanfang nach zweieinhalb Jahren Terror-Herrschaft des IS. «Das ist der Beginn einer neuen, besseren Zeit für unser Land,» sagt Talal Abdulkarim.

Er lebt in der umkämpften Stadt. Zudem sendet der Bürger von Mossul eine Nachricht in die Welt: «Zwei Jahre lang haben wir in der Dunkelheit gelebt. Jetzt können wir wieder zeigen, wie wir Iraker wirklich sind!»

Doch noch ist die Angst vor einem Anschlag deutlich spür- und sichtbar: Überall sind Soldaten postiert, auf dem Dach der Moschee, und auch auf den umliegenden Dächern. Noch ahnen wir nicht, wie berechtigt diese Angst ist.

Ein Armee-Convoy braust heran. Der stellvertretende Oberkommandierende der gesamten Mossul-Operation, Karim Maher Jabr al-Shweli, will am Freitagsgebet teilnehmen. «Heute beten wir hier in Ost-Mossul, und wir senden dies als Nachricht zu unseren geliebten Brüdern und Schwestern im besetzten Westteil dieser Stadt: Die Armee ist hier. Und wir sind bereit, bald werden wir auch euch befreien. Eure Brüder sind nah!» Der General lädt uns ein, ihn auf seiner Tour entlang der Frontlinie zu begleiten.

Soldaten singen unter Beschuss

Es wird eine Fahrt in die Abgründe des Krieges. Kaum sind wir im Polizei-Hauptquartier von Mossul – der ersten Station des Generals angelangt – explodiert etwas. Steine und Metallteile fliegen durch die Luft. Eine Mörsergranate ist wenige Meter von uns entfernt eingeschlagen.

Während wir in Deckung rennen, tanzen die Soldaten: «Wir haben keine Angst! Weder vor ihren Granaten noch vor ihrem Chef, diesem al-Baghdadi. Wir sind gekommen, um sie zu vernichten. Wir werden kämpfen bis zum Tod. Wir werden sie in Stücke reissen!»

Wenn wir an einem Tag weniger als 20 Schwerstverletzte eingeliefert bekommen, ist das ein guter Tag
Autor: Mona Mahdi Notfall-Ärztin

Jeden Tag sterben in Mossul Soldaten – und Zivilisten. Wie viele genau, weiss niemand. «Wenn wir an einem Tag weniger als 20 Schwerstverletzte eingeliefert bekommen, ist das ein guter Tag», sagt Mona Mahdi. Sie ist Notfall-Ärztin in einem provisorisch eingerichteten Feldspital. Mona Mahdi führt uns durch die kargen Räume. «Gestern ist ein Junge eingeliefert worden», sagt sie.

Das Leiden der Kinder und Flüchtlinge ist gross

Er sei offenbar ein turkmenisches Flüchtlingskind gewesen, denn er habe weder arabisch noch kurdisch gesprochen. Niemand habe ihn verstanden – und er habe auch niemanden verstanden. «Er kam alleine, keine Mutter, kein Vater. Der Junge wusste nicht, wo er war, noch, was mit ihm geschah. Wir haben ihn notfallmässig versorgt und ihn dann nach Bartella gebracht, ins nächste Feldlazarett der Armee.»

Die Stimme der erfahrenen Front-Ärztin stockt: «Kinder, das ist das Schlimmste. Und bei diesem Jungen wussten wir nicht einmal, wie wir seine Familie erreichen können. Ob seine Eltern noch leben. Wo seine Verwandten sind. Das ist fast nicht zu ertragen.»

Den Ärzten mangelt es an allem. Es gibt keine Blutkonserven, keinen Impfstoff. Nicht einmal Erste-Hilfe-Sets haben sie hier. «Wir fühlen uns so hilflos! Manchmal können wir nicht mehr tun, als sie mit Sauerstoff zu versorgen, einen Verband anlegen. Und oft können wir sie nicht einmal ins nächste Krankenhaus schicken, weil sie unterwegs sowieso sterben würden und wir nicht genügend Krankenwagen haben.»

Als wir die Notfall-Klinik verlassen, haben wir ein schlechtes Gewissen. Wir bringen uns in Sicherheit, während die Menschen hier im Falle einer Verwundung kaum Überlebenschancen haben.

Der Convoy des Generals hat inzwischen die Frontlinie erreicht. Unser Fahrer weist aus dem Fenster: «Hier drüben ist die Front. Wir sind unmittelbar dahinter. Von hier bis zum Fluss sind es 750 Meter – maximal einen Kilometer. Da ist die Frontlinie.» Ein Auto kommt uns langsam entgegen. «Seht ihr die Familie da? Diese Zivilisten leben unmittelbar an der Frontlinie. Ich bete zu Gott, dass ihnen nichts geschieht!»

Schreckensbilder nach einem Selbstmordanschlag

Dass die Gebete unseres Fahrers keine leeren Worte sind, erfahren wir keine Minute später: Wir halten an einer Strassenecke – und sehen eine Strasse, übersät mit den noch rauchenden Überresten eines Selbstmord-Attentäters. Überall Fleischfetzen, Körperteile, Bombenreste. Der Anblick ist unerträglich. Der Mann hatte sich offenbar dem Convoy des Generals nähern wollen, doch die Soldaten haben auf ihn geschossen und ihn gestoppt, bevor er jemanden anderen töten konnte.

Unbeeindruckt steigt der General aus seiner gepanzerten Limousine und geht ins Haus der Familie, vor deren Tür sich der Selbstmordattentäter unter Beschuss in die Luft gesprengt hat. Die Familie steht unter Schock. Sie hatte Glück, niemand ist ernsthaft verletzt. Wer hier wohnt, verlässt sein Haus nur, wenn es unbedingt sein muss.

Während in der unmittelbaren Kampfzone die Angst und das Überleben im Vordergrund stehen, beschäftigen sich die Menschen ein paar Kilometer weiter stadtauswärts schon wieder mit der Zukunft. Yehya Amr ist achtfacher Familienvater. An einem schäbigen Wasserloch füllt er seine Kanister mit Wasser.

Verunreinigtes Wasser ist zum Problem geworden

Es ist kein Trinkwasser, solches gibt es hier nicht. Zu mehr als zum Waschen kann man dieses Wasser nicht verwenden. «Wasser ist unser grösstes Problem. Wir haben zwar auch kaum Elektrizität, aber Wasser wäre das Wichtigste!»

Selbst wenn wir mit diesem Wasser nur unsere Kleider waschen juckt es nachher überall.
Autor: Ayad Edin Jamal Anwohner in der Nähe von Mossul

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Der Unmut um uns herum ist nicht zu überhören. Ayad Edin Jamal mischt sich in unsere Diskussion mit ein: «Selbst wenn wir mit diesem Wasser nur unsere Kleider waschen juckt es nachher überall. Dieser Krieg hat uns ins Mittelalter zurückgebombt.» Jamal lebt hier – und er ist hörbar verärgert. «Ja, wir wurden zwar befreit, aber jetzt geschieht nichts mehr. Damit wird der Sieg wertlos.»

Eine Hilfsorganisation hat das kleine Loch in den kargen Boden gebohrt, damit die Menschen hier wenigstens Wasser zum Waschen haben. «Wenn wir diesen Leuten nicht ganz schnell helfen, verlieren wir sie! Wir müssen ihr Vertrauen gewinnen, wir müssen ihnen zeigen, dass wir uns um sie kümmern», sagt Ammar Failly von der NGO.

Schlacht um Mossul entscheidet Zukunft des Irak

Denn hier in Mosul entscheidet sich nicht nur die militärische Schlacht gegen den IS. Hier in Mossul entscheidet sich, ob im Irak Sunniten, Schiiten oder Kurden in Zukunft überhaupt noch miteinander leben können. Oder ob der Irak auseinanderbricht.

Deshalb ist es nicht nur wichtig, dass die Stadt zurückerobert wird. Viel wichtiger ist, wie die Stadt zurückerobert wird, und vor allem, wie schnell den Menschen hier eine Perspektive geboten wird.

Denn Leute wie Yehya Amr oder Ayad Edin Jamal sind zwar keine Unterstützer der Terrormiliz «Islamischer Staat». Aber wenn sie sich vernachlässigt fühlen, entsteht jener Raum, in welchem ein IS existieren kann.

Der General hat inzwischen den Ort des Selbstmord-Attentats verlassen. Zurück bleibt eine angsterfüllte Familie. Und das Fazit unseres Fahrers: «Wir arbeiten jeden Tag hart daran, den IS auszulöschen. Jeden Tag verhaften wir Schläfer und übergeben sie der Polizei. Alles in allem geht es ganz gut. So Gott will, setzen wir schon bald nach West-Mossul über. Entweder wir gewinnen, oder wir sterben.»

Dann lassen sie laut ein Lied laufen. «Wir kommen, um Mosul zu befreien», singt der Sänger. Viel zu viele werden bis zu diesem Tag wohl noch sterben.

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