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Repression in der Türkei Erdogan fürchtet um seine Macht

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan dreht weiter an der Repressionsschraube. Neuerdings hat er eine der grössten Frauenrechtsgruppen des Landes im Visier – sie soll verboten werden. Mittlerweile wittere Erdogan in allen nicht-regierungsnahen Organisationen eine Gefahr für seine Macht, so der Journalist Thomas Seibert.

Thomas Seibert

Journalist in der Türkei

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Thomas Seibert verdiente sich seine journalistischen Sporen bei der «New York Times» und den Nachrichtenagenturen Reuters und AFP, bevor er 1997 als freier Journalist in die Türkei ging. Nach einem kurzen Zwischenhalt als Berichterstatter in den USA kehrte er im Juni 2018 nach Istanbul zurück.

SRF News: Was hat der türkische Präsident gegen eine Frauenrechtsgruppe?

Thomas Seibert: Erdogan betont zwar immer wieder, seine Regierung bekämpfe die häusliche Gewalt gegen Frauen. Doch er will es nicht hinnehmen, dass dieser Kampf von einer Institution geführt wird, die er nicht kontrollieren kann. Deshalb soll die Organisation verboten werden. Erdogan wittert hinter allen Organisationen, Institutionen und Verbänden, die er nicht selber kontrolliert, eine potenzielle Gefahrenquelle für seine eigene Macht.

Gerichte gehen gegen Kritiker vor

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Ende April wurde der Kulturförderer Osman Kavala zu lebenslanger Haft verurteilt, diese Woche wurde eine Oppositionspolitikerin kurzzeitig verhaftet, bald muss sich der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, vor Gericht verantworten. Und nun begann in Istanbul der Prozess gegen den Verein «Wir werden Frauenmorde stoppen», eine der grössten Frauenrechtsgruppen der Türkei. Sie setzt sich gegen Gewalt an Frauen ein – und soll jetzt verboten werden.

Ist Erdogans Haltung möglicherweise auf das vor vier Jahren eingeführte Präsidialsystem zurückzuführen, das alle Macht auf ihn konzentriert und er deshalb alles, was er nicht kontrollieren kann, als Gefahr empfindet?

Genau. Es ist dies eine direkte Folge des türkischen Präsidialsystems, das der Macht des Präsidenten fast keine Grenzen setzt. Kräfte, die nicht dem Regierungslager angehören, geraten unter Verdacht der Staatsfeindlichkeit.

Erdogan spricht vor einer Menschenmenge.
Legende: Erdogan kämpft mit schlechen Umfragewerten – wegen der schlechten Wirtschaftslage mit einer Inflation von offiziell 70 Prozent. Keystone

Erdogan dreht also weiter an der Repressionsschraube – befürchtet er, seine Macht bei den Parlaments- und Präsidentenwahlen in einem Jahr zu verlieren?

In der Tat sehen die Umfragen sein Regierungsbündnis derzeit hinter einer Allianz aus Oppositionsparteien. Hauptgrund dafür ist die miserable Wirtschaftslage in der Türkei mit einer Jahresteuerung von derzeit offiziell 70 Prozent, wobei regierungsunabhängige Experten die Inflation sogar doppelt so hoch ansetzen.

Die Stimmung ist gedrückt – und das ist schlecht für die Regierung.

Viele Türkinnen und Türken wissen nicht, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollen, es gibt Berichte, wonach die Leute ihre Kreditkartenrechnungen nicht mehr bezahlen können. Das alles drückt auf die Stimmung – und ist schlecht für die Regierung.

Die Schuld sehen die Menschen also beim Präsidenten, wenn es mal nicht gut läuft?

Das ist grundsätzlich die Gefahr eines solchen Präsidialsystems. Deshalb versuchen Erdogan und seine Regierung, die Erfolge für sich zu reklamieren, wenn es aber kriselt, werden finstere Kräften aus dem Ausland dafür verantwortlich gemacht.

Wenn es kriselt, werden finstere Kräften aus dem Ausland verantwortlich gemacht.

Viele Leute glauben dieser Darstellung, das zeigen etwa antiwestliche und antiamerikanische Strömungen in der türkischen Gesellschaft. Der Westen beabsichtige, den Aufstieg der Türkei zu blockieren, heisst es dann.

Türkei will nicht mehr «Truthahn» heissen

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Erdogan hat bei der UNO ein Gesuch gestellt, dass die Türkei in der internationalen Diplomatie künftig «Turkiye» genannt werden soll – und nicht mehr «Turkey». Denn Letzteres bezeichnet auf Englisch nicht nur das Land am Bosporus, sondern bedeutet auch «Truthahn», «Dummkopf», «Versager» oder «Flop». «Damit will man natürlich nicht in Verbindung gebracht werden», sagt der Journalist Seibert. Seit Jahrzehnten habe es deshalb immer wieder Versuche gegeben, die internationale Bezeichnung «Turkey» zu ändern. So werden Exportprodukte aus der Türkei seit Ende 2021 neuerdings mit «Made in Turkyje» bedruckt. Der Zeitpunkt für die neuste Namensoffensive sei allerdings durchaus im Zusammenhang mit Erdogans Problemen im eigenen Land zu sehen, ist Seibert überzeugt.

Erdogan markiert auch auf der Weltbühne den starken Mann, er versucht den Nato-Beitritt von Finnland und Schweden zu blockieren. Ist auch diese Haltung vor allem innenpolitisch motiviert?

Die Innenpolitik ist ein wichtiger Faktor – und Erdogan weiss, dass er damit punkten kann. Denn trotz der schlechten Bewertung für Erdogans Wirtschaftspolitik unterstützt eine Mehrheit seine Politik im Nato-Streit. Auch das zeigen Umfragen.

Das Gespräch führte Simone Hulliger.

SRF 4 News, Echo der Zeit vom 1.6.2022, 18:00 Uhr ; 

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