Sorin Ionita ist bekannt dafür, dass er kein Blatt vor den Mund nimmt. Der 58-jährige Politikwissenschafter arbeitet für eine Denkfabrik, die für die EU-Kommission den digitalen Raum in Rumänien überwacht. Er weiss, wovon er spricht, wenn er sagt: «Es hat damals wohl keinen anderen Weg gegeben, als die Wahlen zu annullieren.»
Der prorussische, rechtsextreme Kandidat Calin Georgescu hatte beim ersten Wahlgang im November völlig überraschend am besten abgeschnitten, unterstützt von einer massiven Kampagne auf Tiktok, die – so stellte sich später heraus – manipuliert war.
Die Verantwortung dafür, dass es so weit kommen konnte, liege bei den Behörden und bei den regierenden Politikern, so der Experte: Sie liebäugelten mit den Extremisten und taten so, als würden sie nicht bemerken, dass Georgescu für seine Kampagne null Ausgaben angegeben hatte.
Simion: Das nationalistische Lager
Georgescu darf nun nicht mehr antreten. Als sein Statthalter tritt ein bekannter Rechtsextremist an: George Simion, der 38-jährige Chef der ultranationalistischen AUR-Partei. Simion war einst ein Fussball-Hooligan, er hat immer wieder mit Handgreiflichkeiten auf sich aufmerksam gemacht, ist EU-feindlich und isolationistisch. Seine Partei sitzt inzwischen im Parlament und Simion gibt sich neuerdings als gemässigt.
Man wisse nicht, wer von beiden gefährlicher sei, meint Ionita. Aber es gebe einen Unterschied in Stil und Auftreten: Georgescu habe sich nicht wie ein normaler Politiker gebärdet, eher wie ein Sekten-Guru. Simion hingegen hat eine Partei hinter sich. Er spricht aber dasselbe Wähler- und Wählerinnensegment an wie Georgescu: diejenigen Menschen, die vom regierenden Machtkartell genug haben und deshalb glaubten, für jemanden zu stimmen, der ausserhalb des Systems steht.
Eine Täuschung, meint Experte Ionita. Beide, Georgescu und Simion, seien eigentlich Geschöpfe des Systems. Es gebe viele Hinweise darauf. Der Experte spricht von einem undurchdringlichen Kartell der Mächtigen, verbunden mit den Geheimdiensten, deren Fraktionen sich Konkurrenz machten. Fazit: nicht einmal die Anti-System-Politiker seien authentisch.
Antonescu: Das Lager der alten Seilschaften
Ebenfalls unglaubwürdig erscheint dem Experten der gemeinsame Kandidat der regierenden Koalition: der 65-jährige Crin Antonescu. Ein Politiker, der eigentlich schon in Rente gegangen war und von der Partei zurückbeordert wurde. Er war zehn Jahre lang von der Bildfläche verschwunden, während seine Frau in der EU-Kommission in Brüssel tätig war.
Ionita vermutet, der Kandidat Antonescu sei das Resultat einer Negativauslese der regierenden Parteien, ein Resultat von Führungsschwäche des eigentlich mächtigen und korrupten Systems. Antonescu stehe für Stabilität.
Dan: Das EU-freundliche Lager
Bleibt der dritte Kandidat, der Chancen hat, in die Stichwahl zu kommen: Der 55-jährige Bürgermeister von Bukarest, Nicusor Dan. Der Experte attestiert ihm Authentizität und Ehrlichkeit: Er sei nicht korrupt, er komme aus der Zivilgesellschaft und habe sich gegen Spekulation und für den Erhalt der historischen Bukarester Innenstadt eingesetzt.
Der Mathematiker Dan vertritt einen klaren proeuropäischen Kurs, er will die Ukraine unterstützen und die Korruption bekämpfen. Und: er kommt definitiv nicht aus dem System. Sein Handicap aber ist, dass er von einer zerstrittenen Partei unterstützt wird.
Es liegt nun an den Wählerinnen und Wählern, zu entscheiden, welches Rumänien der Zukunft sie wollen.