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Rockstar Sergej Schnurow Der Musiker und der Kreml

Er war das Enfant terrible der russischen Musikszene. Jetzt will Sergej Schnurow in die Politik einsteigen.

Sergej Schnurow ist ein russischer Superstar: Bei Konzerten füllt er Sportstadien, seine Videos werden im Internet bis zu 100 Millionen Mal angeschaut. Früher ist er oft angetrunken aufgetreten, im Unterhemd, die Haare raspelkurz.

Jetzt sitzt ein ganz anderer Sergej Schnurow in der Wohnung des SRF-Korrespondenten in Moskau: Anzug, runde Intellektuellen-Brille, akkurat gestutzter Drei-Tage-Bart. Schnurow ist eigens gekommen fürs Interview, hat einen Leibwächter mitgebracht; seine Luxuslimousine steht vor dem Haus. Es wirkt alles etwas surreal. Aber er will reden. Zudem herrsche ohnehin gerade die Corona-Krise, da habe er sonst nicht viel zu tun.

Seine Verwandlung vom Raubein zum freundlichen Bürger erklärt er so: «Ich bin älter geworden, schon 46 Jahre alt. Ich kann nicht mehr im Tempo von früher leben.»

Früher war die Stimmung eine andere

Nicht nur er hat sich geändert – auch Russland ist ein anderes Land. In den 1990er Jahren, in den Anfängen seiner Band «Leningrad», da habe eine andere Stimmung geherrscht. Eine Stimmung, dass alles vollkommen egal sei: das eigene Leben, die Gesundheit, die Zukunft.

Diesen Zeitgeist goss Schnurow in Rhythmen und Melodien. Es entstand etwa das Lied «Wahlen, Wahlen». Der Text ist ein nihilistisches Manifest: Er stimme «gegen alle», singt Schnurow unter anderem, denn die Kandidaten seien sowieso durchwegs Vollidioten.

Die Partei hat ein vernünftiges Programm, vor allem was die Wirtschaft betrifft.
Autor: Sergej Schnurow Musiker

Inzwischen ist der Musiker – Ironie der Geschichte – selber politisch aktiv geworden. Er ist vor Kurzem der Partei Rost, zu Deutsch «Wachstum» beigetreten. Rost gilt als liberal und wirtschaftsfreundlich. Die Partei gehört zur sogenannten Systemopposition, das heisst, sie wird vom Kreml geduldet, weil sie das System Putin nicht grundsätzlich infrage stellt.

«Die Partei hat ein vernünftiges Programm, vor allem was die Wirtschaft betrifft», begründet Schnurow, warum er sich für Rost entschieden hat. Und auf die Frage, warum er sich überhaupt in die Politik wage – antwortet er: «Ich habe da eine Intuition. Ich spüre, dass sich bald etwas ändern wird in Russland, da will ich dabei sein.»

Konkreter wird Schnurow nicht. Ob seine feinen Sensoren erneut einen Zeitgeist spüren? Oder will sich da einer, der im Showgeschäft alles erreicht hat, neu erfinden? Es bleibt unklar.

Kreml-kritisch in wichtigen Fragen

Fest steht: Jung-Politiker Schnurow wirkt in politischen Fragen noch etwas unbedarft. In Moskauer Oppositionskreisen gibt es die Vermutung, die Staatsmacht habe ihn angestiftet, Politik zu machen – als Pseudo-Oppositioneller, um die echte Opposition zu schwächen. Schnurow bestreitet solche Vorwürfe vehement.

Und tatsächlich hat er sich auf sozialen Medien, wo er Millionen von Followern hat, in wichtigen Fragen bereits eindeutig Kreml-kritisch geäussert: Die Verfassungsänderung, die Putin eine faktisch unbeschränkte Regentschaft ermöglicht, lehnt er ab.

Seine Musik allerdings war bisher weitgehend unpolitisch. In seinen erfolgreichsten Songs geht es vor allem ums Saufen, manchmal auch um Sex. Ein Kritiker hat dem Musiker vorgeworfen, er sei der «wichtigste Narkotiseur Russlands». Er überziehe die hässliche russischen Wirklichkeit gleichsam mit Glanz – und stabilisiere so die Staatsmacht.

Doch dieser Einschätzung wird Schnurow nicht gerecht. Es stimmt zwar, dass er kein hartgesottener, prowestlicher Kreml-Kritiker ist. Aber auch nicht einer, der vor der Macht zu Kreuze kriecht.

«Echo der Zeit» 15.04.2020, 18:00 Uhr

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