Chan stammt ursprünglich aus Myanmar und heisst in Wirklichkeit anders. Er hat mehrere Jahre in der Betrugsindustrie gearbeitet und sich nach einigem Zögern bereit erklärt, von seiner Arbeit zu erzählen. Chan ist Ende zwanzig, überaus freundlich und fast ein wenig schüchtern. Der junge Mann wirkt nicht so, wie man sich einen Betrüger vorstellen würde.
Er war spezialisiert auf sogenannte «Romance Scams». Eine besonders einträgliche Form des Betrugs und zugleich besonders perfid. Die potenziellen Opfer sollen sich in den Täter verlieben. Er war mit mehreren Konten gleichzeitig auf der Datingplattform Tinder unterwegs. Dort habe er vorgegeben, sich in bestimmten Städten aufzuhalten. In Wahrheit sass er in einem südostasiatischen Betrugszentrum, genau genommen im «Goldenen Dreieck», wo Laos an Thailand und Myanmar grenzt. Die Zone ist berüchtigt für ihre illegalen Machenschaften.
Chan erklärt, wie er Fotos von attraktiven Frauen aus dem Internet kopierte und mithilfe von künstlicher Intelligenz neue Personen erschuf. Zum Beispiel eine Koreanerin, die nach Europa ausgewandert war. Für jeden Charakter gab es eine sogenannte «Backstory», in der unter anderem stand, wo die Person aufgewachsen war oder welchen Beruf die Eltern ausübten. «Dort konnten wir jeweils nachschauen, damit wir uns im Kundengespräch nicht plötzlich widersprachen.»
Betrugsopfer als «Kunden»
Als «Kunden» bezeichnet Chan die Online-Userinnen und -User, die dem Betrug zum Opfer fallen sollten. «Wir fragen zuerst nach persönlichen Informationen: Wo sie wohnen, wie alt sie sind, was sie beruflich machen. Dann fragen wir nach der Telefonnummer, um das Gespräch möglichst rasch auf Whatsapp zu verlagern.»
Der «Romance Scam» ist zeitlich aufwendig. Es dauere eine Weile, erklärt Chan, bis ein Vertrauensverhältnis mit dem Kunden aufgebaut sei. Es habe gegolten, die spezifischen Interessen der Opfer herauszufinden. Wenn sich die Person zum Beispiel für Golf interessiere, habe man so getan, als würde man sich ebenfalls für Golf interessieren und mit der Person darüber geredet.
Damit wird erstens eine vermeintliche Nähe geschaffen und zweitens erfahren Betrüger wie Chan mehr über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse von «Kundin» oder «Kunde». Wie nebenbei habe er dann erwähnt, dass er in der Freizeit an der Börse handle, sagt er.
Ausnehmen, bis nichts mehr zu holen ist
Es ist der zweite Akt. Die Betrüger geben sich als Teilzeit-Investorinnen aus. Sie erzählen ihrem Opfer von einer angeblichen Handelsplattform mit ausgeklügelten Algorithmen. Das Opfer wird ermutigt, selbst einen kleinen Betrag zu investieren. Die App zeigt ihm daraufhin einen Gewinn an. Nach und nach soll der «Kunde» seine Investitionen erhöhen.
Die Arbeit sei für den Betrüger aufwendig. «Wir müssen ständig mit dieser Person reden. Wenn sie auch nur die geringsten Bedenken hat, müssen wir diese so schnell wie möglich zerstreuen.» Um das Vertrauen zu stärken, biete man auch Video-Anrufe an. Dazu stellt das Betrugszentrum Models an, die mit dem Opfer reden – um zu zeigen, dass alles echt ist. Das Opfer wird dazu überredet, mehr zu investieren.
Der «Kunde» wird von den Betrügern ausgenommen, bis kein Geld mehr da ist. Im Branchen-Jargon wird das Vorgehen als «Schweine-Schlachten» bezeichnet. Das Opfer soll ausgeweidet werden, bis nichts mehr zu holen ist. Danach brechen die Betrüger den Kontakt ab.
Chans persönlicher Rekord liegt bei 200’000 Euro. Zehn Prozent davon habe er als Provision erhalten, sagt er. Ein gutes Geschäft. Bei anderen Betrügereien betrage die Provision lediglich zwei bis drei Prozent. Der Hauptanteil geht an das Unternehmen, das die Betrugszentren betreibt.
Luxusautos ohne Nummernschilder
Die Geschäfte in der Sonderwirtschaftszone scheinen gut zu laufen. Überall wird gebaut. Ein buntes Märchenschloss, das an Disneyland erinnert, ist bereits fertig. Direkt daneben sind Arbeiter mit dem Bau eines künstlichen Venedigs beschäftigt. Der Kanal ist bereits ausgehoben.
Doch: Der kitschige Schein trügt. Geführt wird die Sonderwirtschaftszone in Laos von einem chinesischen Unternehmen. Die US-Regierung wirft diesem unter anderem Menschenschmuggel, Drogenhandel und Online-Betrug vor. Geführt wird es vom Chinesen Zhao Wei. Er wurde vom US-Finanzministerium mit Sanktionen belegt.
Dass in der Zone viel Geld verdient wird, zeigen auch die Luxusautos auf der Strasse. Mercedes, Bentley, Maserati. Einige fahren mit chinesischen Kennzeichen, andere ganz ohne Nummernschilder.
Jason Tower vom United States Institute for Peace (USIP) in Washington beschäftigt sich schon lange mit der Betrugsindustrie und hat eine Untersuchung dazu publiziert. Die Verbrecher profitierten von den schwachen Staaten, sagt er. Besonders betroffen seien Kambodscha, Laos und Myanmar. Die Staaten hätten ein hohes Mass an Korruption gemeinsam.
Auf Satellitenbildern zeigt sich das Ausmass der Betrugszentren. Es sind grosse Gebäudekomplexe, in denen die Büros und Unterkünfte für die Angestellten untergebracht sind. Ehemalige Betrüger berichten von IT-Supportabteilungen, Kantinen, Fitnesscenter und Karaokebars.
Gelder dank Kryptowährungen schnell verschoben
Jason Tower hat den «Romance Scam» untersucht, von dem Chan berichtet hat. Diese Form des Betrugs sagt er, sei so raffiniert wie desaströs. «Es gibt sogar Leute, die sich Geld leihen, um dieses auf der betrügerischen Plattform zu investieren.» Das Opfer erleide neben dem materiellen Verlust auch massiven psychologischen Schaden.
Sie betrügen inzwischen weltweit und betreiben Menschenhandel in einer Form, die wir zuvor noch nie gesehen haben.
Wenn das Opfer den Betrug schliesslich bemerkt, ist es in der Regel zu spät. Die Betrüger würden die Gelder über Kryptowährungsplattformen verschieben, bevor sie wieder in den formellen Finanzsektor gelangten, sagt Tower. «Durch viele verschiedene Konten, bevor sie sie wieder in den formellen Finanzsektor bringen.»
Man habe beobachtet, dass die chinesischen Netzwerke in ganz Südostasien an Macht und Einfluss gewonnen hätten. «Sie betrügen inzwischen weltweit und betreiben Menschenhandel in einer Form, die wir zuvor noch nie gesehen haben», so Tower weiter. Mit ihrer ausgeklügelten Betrugsmasche könnten sie mittlerweile jeden überall ins Visier nehmen.
Täter und Opfer zugleich
Die Online-User, die um ihr Geld gebracht wurden, sind nicht die einzigen Opfer. Auch auf der Betrüger-Seite gibt es Opfer. Ein solches Opfer treffen wir in Bangkok. In einem grossen Einkaufszentrum, das bekannt ist für seine gefälschten Markenartikel. Wir sollen ihn David nennen, sagt der Mann, der in einem kleinen Handtaschengeschäft arbeitet.
Wenn wir uns nicht anstrengten, könnten sie uns auch mit Elektroschocks quälen.
David ist 34 Jahre alt und stammt ursprünglich aus Myanmar. Während der Corona-Pandemie sieht er auf Facebook eine Stellenanzeige. Ein Job in einem Casino, gut bezahlt, Frühschicht. Davids Interesse ist geweckt. Über Umwege gelangt er schliesslich mit weiteren Interessenten nach Kambodscha. Doch dort entpuppt sich der versprochene Casino-Job als ein leeres Versprechen. Stattdessen landet David in einem Betrugszentrum.
Nachdem er kaum Einnahmen erzielt hatte, wurde er von den Vorgesetzten bedroht, erinnert sich David. «Sie fragten mich, weshalb ich nicht arbeite. Dann schlugen sie mir auf den Hinterkopf.» Die chinesischen Chefs sind unzufrieden mit seiner Arbeit. Ihm und weiteren Angestellten sei gedroht worden, sie in einen dunklen Raum zu sperren, sollten sie nicht bald Kunden akquirieren. «Wenn wir uns nicht anstrengten, könnten sie uns auch mit Elektroschocks quälen. Wir hatten solche Angst und wollten so schnell wie möglich weg von dort.»
Mithilfe eines privaten Handys kontaktiert David einen Verwandten. Er hat Glück im Unglück. Denn dieser nimmt mit einer Hilfsorganisation Kontakt auf. Die myanmarische Botschaft wird involviert. Nichtregierungsorganisationen und lokale Behörden sorgen schliesslich dafür, dass David und acht weitere Kollegen die Betrugsfabrik verlassen dürfen.
Gute Beziehungen zu den Behörden
Die Betreiber dieser Betrugsfabriken sind untereinander vernetzt, weiss Jason Tower von USIP. In vielen Fällen seien die Eigentümer der Betrugszentren dieselben. «Sie sind in der Lage, ihre Aktivitäten zwischen verschiedenen Ländern hin und her zu verlagern, je nach politischem Umfeld, Rentabilität und Zugang zu Strom.»
Die chinesischen Drahtzieher hinter den Betrugsfabriken profitieren laut Jason Tower auch von der «Belt and Road»-Initiative – der gigantischen Infrastrukturoffensive der chinesischen Führung. Ausserdem unterhielten mehrere kriminelle Netzwerke auch Verbindungen zur kommunistischen Partei, sagt Jason Tower. «Oftmals nutzen die kriminellen Akteure diese Verbindungen, in der Hoffnung, dass ihnen dies Legitimität und Schutz verleiht, falls sie ins Visier der Strafverfolgungsbehörden geraten.»
Wenig Mitleid mit Opfern
Chan sagt, er habe vor ein paar Monaten mit der Betrügerei aufgehört. Sie sei ihm zu anstrengend geworden. Zu seinen ehemaligen chinesischen Chefs habe er aber weiterhin ein gutes Verhältnis. Jetzt arbeitet Chan für ein Casino, ganz legal, versichert er.
Hatte er jemals Mitleid mit seinen – wie er sie nennt – «Kunden», die seinetwegen viel Geld verloren haben? Nach einigem Zögern antwortet Chan, er habe schliesslich auch seine Zielvorgaben gehabt. Wenn er diese nicht erreicht habe, musste er zur Strafe zehn Runden rennen. «Nachdem ich bis zu 16 Stunden gearbeitet habe, mag ich nicht noch rennen gehen.»
Von Schlägen oder gar Elektroschocks bei Angestellten habe er zwar gehört, aber nie etwas gesehen, versichert er. Sie müssten sich halt anstrengen. Mit ihm seien die chinesischen Chefs immer zufrieden gewesen.