Für den Diktator Nicolae Ceausescu muss es eine Szene wie aus einem Albtraum gewesen sein: Er steht auf dem Balkon des Zentralkomitees der rumänischen Arbeiterpartei in Bukarest vor mehr als 100'000 Menschen und kommt nicht zu Wort. Die Demonstrierenden schreien ihn nieder. Hilflos klopft er an sein Mikrofon und ruft: «Hallo, hallo.»
Die Szene ereignet sich am 21. Dezember 1989. Das Fernsehen überträgt sie live. Allen ist klar: Die Welle, die in diesem Jahr in vielen Ländern Osteuropas den Kommunismus weggespült hat, ist in Rumänien angekommen. Schon in den Tagen zuvor hatten sich im westrumänischen Timisoara Zehntausende den Truppen des Diktators entgegengestellt. Jetzt geht es in der Hauptstadt darum, ob es dem Diktator gelingt, sich an der Macht zu halten.
Die greifbare Freiheit
Die Entscheidung fällt am Tag darauf. Erneut strömen Zehntausende ins Zentrum der rumänischen Hauptstadt. Unter ihnen Teodor Maries, ein 27-jähriger Fussballer. «Ich bin durchs Fenster in den Sitz des Zentralkomitees eingedrungen», erzählt er. «Noch bevor Ceausescu und seine Frau mit dem Helikopter vom Dach des Gebäudes geflohen sind.» Nach bleiernen Jahrzehnten der Diktatur scheinen für den jungen Mann und seine Mitstreiter Freiheit und Demokratie endlich greifbar.
Doch auch andere erkennen die Gelegenheit: eine Gruppe hoher kommunistischer Funktionäre. Ihr Anführer ist Ion Iliescu, früher Minister in der Regierung von Ceausescu. Nur Stunden nach der Flucht des Diktators tritt er auf den Balkon des Zentralkomitees und hält eine Rede. «Die alte Struktur ist praktisch aufgelöst», ruft er der Menge zu. Sie sollen nach Hause gehen. Er und seine Leute würden das Land neu ordnen.
Ein kommunistischer Parteifunktionär, der die Macht übernimmt und die Menschen nach Hause schickt: Das kommt schlecht an bei den Demonstrierenden. «Ohne Kommunisten, ohne Kommunisten», skandieren sie. «In diesem Moment haben Iliescu und seine Gefährten auf dem Balkon des Zentralkomitees erkannt, dass die Masse nicht hinter ihnen steht», sagt Zeitzeuge Maries.
Das war völlig unlogisch. Der Diktator war ja bereits weg. Ich fragte mich: Wer hat da geschossen?
Und dann, nur eine Stunde nach der Rede von Iliescu, fallen plötzlich Schüsse auf dem Platz vor dem Zentralkomitee. Teodor Maries hat das verwirrt: «Das war völlig unlogisch. Der Diktator war ja bereits weg. Ich fragte mich: Wer hat da geschossen?»
Die scheinbare Erklärung liefert am nächsten Tag Ion Iliescu in einer Fernsehansprache. Banden von Terroristen würden versuchen, die Revolution zu kapern, behauptet der neue starke Mann Rumäniens. Die Bevölkerung wird aufgerufen, sich gegen ausländische Agenten zu wehren.
Das Resultat: In den Tagen nach dem Sturz des Diktators sterben bei Gewaltexzessen im ganzen Land mehr als 800 Menschen. Das sind ungefähr viermal so viele wie in den Tagen unmittelbar vor dem Ende des Ceausescu-Regimes.
Geheimpolizisten schürten Panik
Der Basler Oliver Schmitt ist Professor für südosteuropäische Geschichte an der Universität Wien und einer der besten Kenner der jüngeren rumänischen Geschichte. Er sagt zur Behauptung von Iliescu: «Es gab Terroristen, aber das waren Agenten der Securitate.» Ceausescus Geheimpolizisten hätten Anschläge verübt, um Rumänien in einen Zustand der Unsicherheit zu stürzen und eine Übernahme der Macht durch Aktivisten zu verhindern. Ein Plan, der ursprünglich Diktator Ceausescu dienen sollte.
Der Sturz Ceausescus
«Neuere Forschungen haben gezeigt, dass Ceausescu seit langem einen Umsturzversuch von innen gefürchtet hatte und sich darauf vorbereitete. Diese vorbereiteten Pläne wurden dann auch in Kraft gesetzt. Sie sahen vor, dass spezielle Securitate-Einheiten Panik stiften sollten. Dann hätten gezielt Gerüchte gestreut werden sollen, dass hinter diesem Umsturz ausländische Kräfte aus dem Westen und dem Osten stünden», sagt Historiker Oliver Schmitt.
Genau das sei dann auch passiert. Schmitt ist überzeugt, dass Nicolae Ceausescu und seine Frau Elena zunächst glaubten, ihr Plan gehe auf. Dass andere ihren Plan gekapert hatten, hätten sie wohl erst realisiert, als ein improvisiertes Militärgericht sie am Weihnachtstag 1989 zum Tode verurteilte und nur Minuten später hinrichten liess. Entscheidende Figuren in der mächtigen Geheimpolizei Securitate und in der Armee hatten die Seiten gewechselt.
Man hat den Menschen einen Moment des Muts weggenommen
Wer in den letzten Tagen des Jahres 1989 in Rumänien welchen Schiessbefehl gegeben hat, ist in einigen Fällen bekannt, in vielen nicht. Für Teodor Maries, der als Aktivist seit Jahrzehnten für eine gerichtliche Aufklärung der Todesfälle kämpft, ist klar: Der Hauptverantwortliche für die Gewalt ist Ion Iliescu. «Er war der Nutzniesser Nummer eins dieser Verwirrung.» Iliescu habe in Kauf genommen, dass Hunderte Menschen sterben, damit er und seine Gruppe sich die Macht sichern konnten. Tatsächlich blieb Iliescu für die nächsten Jahre einer der mächtigsten Politiker Rumäniens.
Verloren hatte das hingerichtete Diktatorenpaar Nicolae und Elena Ceausescu. Verloren hatten aber auch all die Rumäninnen und Rumänen, die viel riskierten und für die Demokratie auf die Strasse gingen. «Das prägt Rumänien bis heute, dass man den Menschen den Moment, in dem sie enormen Mut gezeigt haben, weggenommen hat», sagt Rumänien-Spezialist Schmitt.
In den Jahren nach 1989 wird Rumänien zwar eine Demokratie. 2004 tritt das Land der Nato bei, 2007 auch der Europäischen Union. Aber anders als in den meisten anderen osteuropäischen Staaten prägen in Rumänien nicht neue Köpfe die Politik, sondern andere Köpfe aus dem kommunistischen Apparat, allen voran Ion Iliescu. Nach dem Ende des Kommunismus ist er von 1990 bis 1996 und dann noch einmal von 2000 bis 2004 rumänischer Staatspräsident.
Die Mächtigen wollen keine Aufklärung
Inzwischen hat sich Iliescu aus der Politik zurückgezogen. Aber das von ihm geschaffene Machtsystem bestehe bis heute, sagt Rumänien-Spezialist Oliver Schmitt. «Mittlerweile ist seine Enkelgeneration an der Macht. Aber die postkommunistische, sogenannt sozialdemokratische Partei sieht sich als Nachfolgerin der Kommunistischen Partei unter Diktator Ceausescu. Es ist ein Machtmodell, das aus Korruption und Geheimdienststrukturen besteht und ausserordentlich gut organisiert ist.»
Die Teilhaber dieses Machtsystems hätten keinerlei Interesse daran, die blutigen Ereignisse in den Tagen nach dem Sturz des Diktators sauber aufzuarbeiten. Ion Iliescu wurde zwar wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, er habe absichtlich die Gefahr des Terrorismus heraufbeschworen und damit die Gewaltexzesse rund um die Weihnachtstage im Jahr 1989 provoziert.
Zu einem Urteil ist es jedoch auch mehr als drei Jahrzehnte nach den Ereignissen nicht gekommen. Akten sind verschwunden. Die Gerichte schieben den Fall hin und her.
Fatale Leerstelle in der Geschichte
«Das kann kein normaler Mensch nachvollziehen. Es gibt keinen Willen, die blutigen Ereignisse von damals aufzuklären», ärgert sich der Aktivist Teodor Maries. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Rumänien mehrere Male kritisiert, weil die juristische Aufarbeitung der Gewaltexzesse vom Dezember 1989 kaum vorankommt. Dass über den 93-jährigen und gesundheitlich angeschlagenen Ion Iliescu noch zu Lebzeiten ein Urteil gefällt wird, ist wenig wahrscheinlich.
Das heisst auch, dass es weiterhin keine verbindliche Version der Geschichte rund um den Sturz von Diktator Ceausescu geben wird. Ein Jammer, findet Historiker Schmitt: «Für eine Demokratie, die sich ja auf den Werten dieser Revolution aufbauen könnte – auf Ehrlichkeit, Anstand, Einsatz für den Rechtsstaat –, ist diese Ungewissheit über einen der entscheidenden Momente in der jüngeren Geschichte fatal.» Sie dürfte mitverantwortlich sein dafür, dass die Rumäninnen und Rumänen wenig Vertrauen haben in ihren Staat.