Die Nato, der deutsche Bundeskanzler und viele weitere westliche Politiker äusserten sich nach Russlands Manöver-Ankündigung irritiert, ja empört. Im Weissen Haus spricht John Kirby, Sprecher des nationalen Sicherheitsrats, von einem «rücksichtslosen und unverantwortlichen» Vorhaben. Russland zündelt, zumindest verbal, unverdrossen weiter mit seinem Atomarsenal.
Pavel Podvig vom UNO-Institut für Abrüstungsforschung gilt ausserhalb Russlands als einer der renommiertesten Experten für russische Atomwaffen. Er, dessen Karriere in Moskau begann, beschäftigt sich seit Jahren damit.
Nun ist er überrascht: «Erstens, weil die Manöver unweit der ukrainischen Grenze stattfinden sollen. Und zweitens, weil der Kreml sie diesmal quasi per Megafon angekündigt hat.» Solche Übungen fänden zwar immer mal wieder statt, jedoch diskret. Auch der Westen übt gelegentlich den Einsatz seiner in mehreren Nato-Staaten stationierten US-Atomwaffen.
Manche grosse, strategische Atomwaffen befinden sich ständig in Alarmbereitschaft. Anders die kleineren taktischen Atomwaffen, auch Gefechtsfeldwaffen genannt. Bei diesen werden die Atomsprengköpfe oft fernab der Trägersysteme, also von Raketenabwehrrampen, Flugzeugen oder U-Booten gelagert.
Militärisch kein sinnvoller Akt, aber ein politisches Signal
«Deshalb werden gelegentlich die Abläufe geübt, wie diese taktischen Nuklearwaffen einsatzfähig gemacht werden können. Diese Waffen hätten für Russland im Krieg gegen die Ukraine keinerlei militärischen Nutzen. Mit diesen relativ kleinen Atombomben können grosse feindliche Panzer- oder Truppenkonzentrationen auf einen Schlag ausgeschaltet werden. Doch solche Konzentrationen gibt es an der ukrainischen Front nirgends», so Podvig. Bedeutend wäre hingegen das politische Signal, sollte Moskau solche Waffen tatsächlich einsetzen.
Noch gilt ein Atombombeneinsatz weltweit als Tabu. Bricht ein Land dieses, würde es zum Aussätzigen. Für entsprechend wichtig hält Podvig daher zweierlei: Zum einen müsse der Westen immer und immer wieder betonen, weder wolle er Russland zerschlagen noch einen Regimewechsel in Moskau herbeiführen. Wladimir Putin und Konsorten dürften sich nicht in einer Weise bedroht sehen, dass einzig ein Atomschlag sie retten könnte.
Zum anderen und noch wichtiger sei, dass allen voran China und gewichtige Länder wie Indien dem Kreml in aller Deutlichkeit klarmachen, dass der Einsatz von Nuklearwaffen auch für sie jenseits des Tolerierbaren sei.
USA halten den Ball flach
In den USA hat sich offenkundig die Einsicht durchgesetzt, vorläufig – bei aller verbalen Empörung – den Ball flach zu halten. «Wir beobachten in Washington genau, was Russland im Nuklearbereich tut. Und sehen momentan nichts, das uns zu einer Strategieänderung zwingen würde», sagt John Kirby stellvertretend für US-Präsident Joe Biden.
Die Gefahr einer nuklearen Eskalation hält sich also, trotz der gewollt provokativen russischen Manöver-Ankündigung, derzeit in Grenzen. Was aber Pavel Podvig auch sagt: «Diese Atomwaffen sind vorhanden. Solange das so ist, könnten sie irgendwann benutzt werden.» Vielleicht gar nicht mal aus strategischem Kalkül, sondern aufgrund einer fatalen Fehleinschätzung.