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Russischer Präsident «Putin hat die russische Gesellschaft depolitisiert»

Wladimir Putin könnte gemäss der vor drei Jahren entsprechend angepassten Verfassung Russlands bis 2036 regieren. Die nächsten Präsidentschaftswahlen finden wohl im März statt. Putin dürfte bald seine Kandidatur für eine fünfte Amtszeit verkünden, sagt Russland-Experte Ulrich Schmid.

Ulrich Schmid

Professor für Osteuropastudien

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Ulrich Schmid ist seit 2007 Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Nationalismus in Osteuropa und russische Medientheorien.

SRF News: Rechnen Sie mit einer weiteren Kandidatur Putins?

Ulrich Schmid: Im Dezember wird der Föderationsrat die Wahlen für den 17. März ankündigen. Nach zweieinhalb Jahren wird es dann wieder eine Fragerunde direkt aus dem Volk mit Putin geben. Und schliesslich wird auch der Parteitag der Regierungspartei «Einiges Russland» stattfinden. Nach oder direkt während der Fragerunde dürfte Putin entweder seine Kandidatur erklären oder einen Kandidaten seiner Wahl vorschlagen.

Die Möglichkeit, dass der nächste Präsident in den USA Trump heissen könnte, würde eher darauf hindeuten, dass Putin kandidiert. Auf der anderen Seite hat Putin sein politisches Schicksal mit einem Sieg in der Ukraine verbunden, der überhaupt nicht in Sicht ist.

Nach dem Aufstand der Wagner-Söldner im Juni hatten Sie noch gesagt, Putin halte sich nicht mehr lange an der Macht. Hat sich Ihre Meinung geändert?

Ja. Wir stellen uns die politische Situation in Russland als Diktatur vor. In der Tat hat Putin im letzten Jahrzehnt enorme Macht angesammelt, doch jede Diktatur muss Dividenden auszahlen, was derzeit nicht der Fall ist.

Putin muss bald eine Lösung vorschlagen, ein ewiges Fortdauern des Krieges ist für die Führungselite kein wünschbares Szenario.

Der Krieg kostet, Russland ist international isoliert, hat über 100'000 Tote zu beklagen. Die Technokraten und die Kriegspartei sind unzufrieden. Putin muss bald eine Lösung vorschlagen, ein ewiges Fortdauern des Krieges ist für die Führungselite kein wünschbares Szenario.

Wie beurteilen Sie den Rückhalt Putins in der Bevölkerung?

Umfragen bescheinigen Putin nach wie vor einen Rückhalt von etwa 80 Prozent. Man muss sie aber mit einiger Vorsicht aufnehmen. Von 100 Befragten lehnen es 94 ab, eine Aussage zur Unterstützung Putins zu machen.

Putin hat in den letzten 20 Jahren seiner Herrschaft auf eine Depolitisierung der Gesellschaft hingearbeitet. Zwar kommt es so zu fast keinen Protesten auf der Strasse, eine depolitisierte Gesellschaft ist aber auch schwierig für einen Krieg zu mobilisieren.

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow prognostizierte in der «New York Times» Putins Wiederwahl mit über 90 Prozent. Wie sehen Sie das?

Seine Wiederwahl wäre klar, sollte Putin kandidieren. Im selben Interview hat Peskow aber auch gesagt, dass die Präsidentschaftswahl in Russland nicht wirklich ein demokratischer Prozess, sondern eine aufwendige bürokratische Prozedur sei.

Peskow sagte auch, dass die Präsidentschaftswahl in Russland nicht wirklich ein demokratischer Prozess, sondern eine aufwendige bürokratische Prozedur sei.

Tatsächlich sehen wir das bereits teilweise: So hat das alte politische Urgestein Grigori Jawlinski von den Liberalen vor einigen Tagen seine Kandidatur für die Präsidentschaft in Russland angekündigt. Wahrscheinlich ein Trick des Kremls, die progressive Agenda mit einem alten, schwachen Politiker zu verbinden, der dann womöglich eine krachende Niederlage erleidet.

Weshalb schadet es Putin kaum, dass die Zustimmung zum Krieg in der Ukraine zurückzugehen scheint?

Russlands Gesellschaft ist weitgehend orientierungslos. Umfragen stellten fest, dass an beiden Seiten des Spektrums jeweils etwa 20 Prozent entschieden für oder entschieden gegen den Krieg sind. In der Mitte sind viele bereit, dem Kreml zu folgen, auch aus der Einsicht, in der russischen Politik auf lange Sicht überhaupt nichts ausrichten zu können. Aber jeder Zinksarg, der aus dem Kriegsgebiet nach Russland kommt, schadet Putin natürlich.

Das Gespräch führte Markus Hoffmann.

Echo der Zeit, 02.12.2023, 18:00 Uhr ; 

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