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Russland nach dem Aufstand Osteuropa-Expertin: Erste Risse im System sind deutlich geworden

Vor einer Woche marschierten schwer bewaffnete Wagner-Truppen Richtung Moskau. Was folgt aus diesem Ereignis? Gwendolyn Sasse, Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und Internationale Studien in Berlin, ordnet die Ereignisse ein.

Gwendolyn Sasse

Politikwissenschaftlerin

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Gwendolyn Sasse ist die wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und Internationale Studien in Berlin und Einstein-Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin.

SRF News: Wenn Sie an das vergangene Wochenende zurückdenken – was war für Sie die grosse offene Frage?

Gwendolyn Sasse: Die Hauptfrage war, ob und in welchem Ausmass sich Eliten aus der russischen Armee, dem Sicherheitsapparat den Wagner-Truppen anschliessen würden und ob somit dann aus dieser Bewegung gen Moskau mehr hätte werden können. Das war sicher auch für Wagner-Chef Prigoschin die Hauptfrage. Er hat dann entschieden, den Vormarsch abzubrechen, als deutlich wurde, dass es nicht genug Unterstützung gibt. Aber die Tatsache, dass man so weit gekommen ist, zeigt, dass sich zumindest auch wichtige Eliten dem nicht entgegengesetzt haben.

Aber funktionierten die Loyalitäten? Hielt bzw. hält der Sicherheits- und Militärapparat zu Putin?

In grossen Teilen. Doch allein schon der Umstand in Rostow das Militärkommando übernehmen zu können, heisst ja, dass man vor Ort in Rostow davon wusste, dass das passiert und sich dem nicht entgegengestellt hat. Dann auch so weit gen Moskau zu kommen, zeigt wie auch im Militär und im Sicherheitsapparat eher zugeschaut haben. Viele haben sich nicht klar positioniert.

Es sind erste Risse im System öffentlich deutlich geworden. Aber im Grossen und Ganzen hält das System noch.

Die Loyalitäten werden wohl nicht alle auch auf Dauer noch halten. Es sind erste Risse im System öffentlich deutlich geworden, aber im Grossen und Ganzen hält das System noch. Wir können davon ausgehen, dass Putin alle Anstrengungen darauf verwenden wird, dass sich dieses Szenario mit Privatarmeen und Gewaltakteuren, die sich gegen das System wenden, nicht wiederholen kann.

Wird Putin nun repressiver?

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«Ich erwarte mehr Repressionen», sagt Sasse. «Ich erwarte auch eine forcierte Umsetzung der Entscheidungen, die schon getroffen wurden, zum Beispiel, dass heute der Stichtag ist, an dem sich Privatarmeen in die russische Armee offiziell eingliedern müssen.»

«Einige haben das getan, bei den Wagner-Truppen ist es momentan unklar, wo sie überhaupt genau sind und wer sich dem Befehl auch beugen wird. Aber das wird forciert werden. Privatarmeen, die ausserhalb der staatlichen Kontrolle stehen, wird es wohl so nicht mehr geben. Ob das in Gänze gelingen wird, werden wir sehen. Dann erwarte ich auch Repressionen, sowohl im eigenen Apparat als auch im ganzen Land, weiter auf jegliche Opposition konzentriert.»

Kann Putin gegen die eigenen Leute vorgehen, wenn es vielleicht doch relativ viele sind?

Wir wissen nicht, wie viele es sind. Wir wissen auch nicht, was zum Beispiel die russischen Soldaten an der Front überhaupt mitbekommen von dem, was passiert ist. Zudem kann nicht beurteilt werden, wie hoch die Unterstützung für Putin innerhalb der russischen Armee ist.

Was wir letztes Wochenende gesehen haben, ist ein Gefühl von Instabilität. Das ist ein Risiko für einen autoritären Machthaber wie Putin.

Wir haben aber Bilder gesehen, die zeigen, wie Prigoschin und seine Truppen als Kriegshelden verehrt werden. Das bedeutet, dass im Umkehrschluss Putin nicht auf die Unterstützung aller, die am Krieg beteiligt sind, wetten kann. Aber darüber hinaus sehen wir momentan keine wirkliche liberale Opposition, die übrig geblieben wäre und sich Gehör verschaffen könnte. Wir sehen auch in der Gesellschaft eher den Wunsch nach Stabilität.

Was wir letztes Wochenende gesehen haben, ist ein Gefühl von Instabilität. Das ist ein Risiko für einen autoritären Machthaber wie Putin. Es wird von der Gesellschaft, auch einer autoritär geprägten Gesellschaft, als eine Gefahr wahrgenommen.

Sowohl die Eliten als auch die Gesellschaft sehen momentan keine klare politische Alternative zu Putin, für die man dann wirklich die Loyalitäten wechseln würde. Meines Erachtens muss auch ein irgendwie gestalteter Wandel auf der Ebene der Eliten beginnen. Die Gesellschaft selbst ist so lange so vorgeprägt worden, dass das Momentum nicht von dort kommen wird. Aber allein dieses Gefühl von Instabilität, das hinterlässt einen Riss und vielleicht ein wackeliges Vertrauen in die jetzige Führung.

Das könnte in einem autoritären System zum Problem werden?

Auf jeden Fall. Das muss ein autoritärer Machthaber fürchten. Denn von Stabilität hängt alles ab. Putin muss sich so inszenieren, dass er als die Person wirkt, die die Kontrolle über die Ereignisse hat.

Wie soll der Westen mit der Situation umgehen?

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«Man muss sich bereit machen», so Sasse. «Die Frage ist allerdings, dass nicht klar ist, wie. Man muss verschiedene Szenarien denken. Aber wir haben letztes Wochenende auch gesehen, dass dann eigentlich der Westen und verschiedene Akteure im Westen zu Beobachtern und Beobachterinnen werden. In den internen Machtkampf wird man in diesem Stadium von aussen nicht eingreifen können. Aber die Fokussierung des Westens weiterhin auf die Unterstützung der Ukraine, weil der Kriegsverlauf ganz entscheidend sein wird für die Stärke oder Schwäche Putins und seinen Systemerhalt, da kann der Westen weiter vieles machen und sich darauf weiter fokussieren und genau beobachten, was in Russland passiert. Und sich verschiedene Szenarien im Kopf zu behalten und sich darauf vorzubereiten, so gut es geht.»

«Denn autoritäre Systeme wirken über lange Zeit sehr stabil, aber es kann auch ganz plötzlich etwas passieren und ich glaube, das ist natürlich Spekulation, aber ich glaube, wir sind noch nicht an dem Punkt. Aber es könnte kommen und dann kann es sehr schnell gehen und dann kann es auch ein gewaltsamer Wechsel sein. Und es kann sein, dass eine Person ähnlich wie Putin an die Macht kommt. Es könnte auch noch eine weitere Gewaltspirale in Russland geben. Das heisst, so gut wie möglich verschiedene Szenarien anzudenken. Aber im jetzigen Moment wird man sie von aussen meiner Ansicht nach nicht beeinflussen können.»

Das Gespräch führte Simone Hulliger.

Echo der Zeit, 01.07.2023, 18:00 Uhr ; 

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