Zum Inhalt springen

Sánchez verliert im Parlament Der Wille zur Zusammenarbeit ist in Spanien ein knappes Gut

Der Absturz war unvermeidlich. Ministerpräsident Pedro Sánchez hat seinen Wahlsieg falsch interpretiert. Er hatte am 28. April 123 Sitze gewonnen, 123 von 350. Das ist keine absolute Mehrheit. Aber die Sozialisten waren wieder stärkste Kraft im spanischen Parlament – und das mit Abstand: Die zweitplatzierte konservative Partei PP hatte 57 Sitze weniger. Sánchez fühlte sich stark. Stärker als er tatsächlich war.

Noch in der Wahlnacht schlug ihm Pablo Iglesias, Chef der Linkspartei Unidas Podemos, eine Koalitionsregierung vor. Sánchez hörte nicht hin. Er wollte allein regieren. Die kleineren Parteien sollten ihn unterstützen, ohne Beteiligung an der Macht. Koalition? Keine Rede.

Machtteilung ist keine spanische Tugend

Koalitionen gab es nie, seit Spaniens Rückkehr zur Demokratie vor mehr als 40 Jahren keine einzige. Macht zu teilen, Macht zu verhandeln, ist keine spanische Tugend. Man erkennt keinen Vorteil darin, beobachtet die anderen Parteien mit Misstrauen, mit Missgunst und findet nur für den eigenen Vorteil immer neue Gründe und Rechtfertigungen.

Sánchez begriff spät, dass sein Alleingang aussichtslos war. Wahrscheinlich zu spät. Er hatte keine andere Option, als die linke Konkurrentin Podemos und deren Chef Pablo Iglesias. Er begann zu verhandeln, mit vielen Wenn und Aber. Auf jedem Schritt war ihm anzumerken, dass er eigentlich diesen Weg nicht wollte. Und Iglesias machte es ihm mit seinen Maximalforderungen nicht leichter.

Sánchez kannte den Machthunger von Pablo Iglesias. Er war seinem eigenen sehr vergleichbar. Er kannte den Geltungsdrang seines Konkurrenten. Und die politischen Differenzen zwischen seiner Partei und jener des andern. Vor diesem Hintergrund wurde verhandelt.

Viel Lärm, wenig politische Vernunft

Die letzten Tage wurden fast viertelstündlich neue Halbwahrheiten und Gerüchte gestreut, beide Parteien, Sozialisten und Podemos, wollten die Deutungshoheit über das Scheitern, das bereits unabwendbar schien. In diesem Lärm ging die politische Vernunft unter.

Hörbar wurde sie erst in der heutigen Parlaments-Debatte wieder. Allen war klar, dass die Gespräche in einer Sackgasse steckten. Die rechten Parteien überhäuften Sánchez mit Schimpf und Schande. Aber es gab andere Stimmen, die daran erinnerten, dass Neuwahlen keine Option sind, es wären die vierten in vier Jahren.

Bürger wollen Regierung, die Probleme löst

Das Ergebnis der Wahlen vom 28. April war in einem Punkt deutlich. Und das haben Sánchez und Iglesias in ihrem Gezerre aus den Augen verloren: Die Rechten und Rechtsextremen sollten nicht an die Macht kommen. Bürgerinnen und Bürger wollten endlich wieder eine Regierung, die Probleme löst und nicht dauernd neue schafft. Daran erinnerten heute Abgeordnete verschiedener Parteien. Sie forderten Sánchez und Iglesias auf, nach der Abstimmung an den Verhandlungstisch zurückzukehren.

An Zeit für einen zweiten Versuch fehlt es nicht, bis Ende September. Der politische und der persönliche Wille zur Zusammenarbeit ist das knappere Gut. Vielleicht hat die heutige Debatte dem einen oder dem andern den Blick freigemacht auf viel grössere Interessen als die eigenen. Jene Spaniens.

Martin Durrer

Auslandredaktor, SRF

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Martin Durrer arbeitet seit 1989 bei Radio SRF. Er war unter anderem als Leiter der Auslandredaktion tätig und berichtete aus Lateinamerika mit Sitz in Buenos Aires.

Meistgelesene Artikel