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Schicksalswahl in Südamerika Chiles Graben gegen Migranten

Der Rechte José Antonio Kast fordert einen Grenzgraben gegen Migranten. In Nordchile könnte ihm das Stimmen verschaffen.

Ziemlich genau um 7:30 Uhr zupft der Polizist am Zelteingang: «Guten Morgen, aufstehen!» Andreina erschreckt es nicht mehr, längst kennt sie das Prozedere. Jeden Tag heisst es für sie und die anderen Venezolaner, die in der Küstenstadt Iquique auf öffentlichen Plätzen übernachten: Zelt abbauen, um die Anwohner nicht zu stören. Am Abend können sie die Zelte dann wieder aufstellen.

Viele der Migranten leben seit Monaten auf der Strasse: ohne sanitäre Anlagen, ohne Arbeitserlaubnis. In der Hoffnung, Papiere zu erhalten und bald genug zu verdienen, um Geld nach Venezuela zu schicken, sagt José Argenis Tanga: «Wir wollen hier bleiben und unserer Familie zu Hause helfen. Sie brauchen Nahrungsmittel, Medikamente. Natürlich fehlt es uns an allem, aber wir sind gekommen, um zu arbeiten.»

Täglich kommen neue Migranten aus Venezuela nach Chile. Viele sind tausende von Kilometern gelaufen, mit Kindern, durch das Hochland, durch die Atacama-Wüste. «Es reicht», riefen im September mehrere tausend Menschen bei Protesten in Iquique und forderten in Sprechchören: «Raus mit den Venezolanern!» Ein Mob verbrannte Zelte, Kleidung, Spielzeug und Decken von Migranten. Die Vereinten Nationen verurteilten die fremdenfeindlichen Attacken.

Wütende Menschen werfen Kleider und Zelte in ein Feuer.
Legende: Unbändige Wut: Viele Chilenen haben genug von den Migranten. Am 25. September kam es zu unschönen Szenen. Ein wütender Mob verbrannte Zelte sowie das wenige Hab und Gut, welches die Migranten mit sich trugen. imago images

Insgesamt haben in den letzten zehn Jahren schätzungsweise eine halbe Million Venezolaner in Chile Zuflucht gefunden. Auch wenn sie die Grenze als Illegale überquert haben, werden sie nur in seltenen Fällen deportiert. Doch ohne Papiere befinden sie sich in einem Schwebezustand: Sie werden zwar nicht ausgewiesen, dürfen aber nicht arbeiten.

Erinnerungen an Trumps Mauer

Bei der Wahl am Sonntag wird die Positionierung der beiden Kandidaten zum Thema Migration mitentscheiden. Der Vorschlag des Ultrarechten José Antonio Kast erinnert an Donald Trumps Mauer zu Mexiko: Kast verspricht einen Graben an der Grenze im Norden: «Wie lang der Graben sein wird, hängt davon ab, wo am meisten Illegale ins Land kommen. Es ist von einer Länge von 800 Kilometern auszugehen.»

Wir werden eine völlig andere Linie verfolgen: Ernsthaft, verantwortlich, in Zusammenarbeit mit den anderen Ländern in Lateinamerika.
Autor: Gabriel Boric Chilenischer linksgerichteter Politiker

Der linke Gabriel Boric vermied das Thema Migration im Wahlkampf lange, antwortete jedoch bei Social Media auf den Vorschlag von Kast: «Wir werden eine völlig andere Linie verfolgen: Ernsthaft, Verantwortlich, realistisch, eine kontrollierte Migrationspolitik, in Zusammenarbeit mit den anderen Ländern in Lateinamerika.»

Graben bedeutet Schliessung der Grenze

Soziologie-Professorin und Migrationsforscherin Carolina Stefoni sagt: Ein Graben an der Nordgrenze sei unwirksam und würde vermehrt Schleuser auf den Plan rufen. «Der Vorschlag von Kast ist eine Kontrolle der Grenze, eine Schliessung.» Es sei völlig unrealistisch, das sehe man überall auf der Welt, auch an der Grenze Mexiko–USA: Auch diese werde überquert. «Es ist bei unserer Landschaft unmöglich: Wir haben Wüste und Berge. Man müsste alle paar Meter einen Soldaten hinstellen – unmöglich.»

Dem Kandidaten der Linken stellt sie ein besseres Zeugnis aus: «Er hat ein grösseres Verständnis für die Komplexität des Phänomens, für die Bedeutung eines integrierten Vorgehens mit anderen Ländern und davon, Mechanismen für die Legalisierung zu finden, damit die Menschen sich in den Arbeitsmarkt integrieren können.»

Wahl entscheidet über Schicksal der Migranten

Für die Migranten in Iquique ist es entscheidend, wer die Wahl gewinnt. Denn wenn Chile am Sonntag wählt, geht es auch um die Migrationspolitik: Grenzgraben und vermehrte Abschiebungen – oder den Versuch einer geregelten Einwanderung.

Drei Fragen drei Antworten zur Präsidentschaftswahl

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Axel Callís ist Soziologe und Meinungsforscher. Zudem ist er Direktor von Túinfluyes.com. Er kennt die Situation in Chile.

Wo sind die beiden Kandidaten politisch zu verorten?

José Antonio Kast ist ein Ultrarechter, er ist eine Mischung aus Marine LePen und Donald Trump. Kast steht rechts von allen Regierungen, die Chile in den letzten 30 Jahren hatte. Er spricht jene an, die sich Ordnung im Land wünschen und einen radikalisierten Diskurs in Sachen Migration befürworten. Gabriel Boric wiederum ist am ehesten mit dem spanischen Linkspolitiker Pablo Iglesias zu vergleichen. In Chile gab es den Versuch, Boric als linksextrem darzustellen, das ist nicht der Fall. Sein Programm entspricht dem einer nordisch geprägten Sozialdemokratie mit garantierten Grundrechten und einem Gleichgewicht zwischen Staat und Markt.

Wer wählt wen?
José Antonio Kast verhält sich trotz seiner Bewunderung für Pinochet, die er nie verheimlicht hat, demokratisch. Viele seiner Wähler sind Mitte 60 und älter. Sie wünschen sich Stabilität und einen Präsidenten, der die Kriminalität in den Griff bekommt. Die Wähler von Boric sind jünger als 40. Sie wünschen sich soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz und einen Präsidenten, der Frauenrechte stärkt.

Wie sind die Prognosen?
Chile ist gespalten. Im Wahlkampf haben beide Kandidaten moderatere Töne angeschlagen, um die Stimmen der Mitte für sich zu gewinnen und sie haben versucht, Nichtwähler zu mobilisieren. Eins ist klar: Egal wer gewinnt, er wird kein Mandat für Extrempositionen haben.

10 vor 10, 16.12.2021, 21:50 Uhr

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