28 Jahre nach dem Untergang der Fähre Estonia in der Ostsee wird der Fall an einem schwedischen Gericht einmal mehr aufgerollt. Dabei geht es mehr um juristische Spitzfindigkeiten als um eine Lösung des Rätsels um die schwerste Schifffahrtskatastrophe in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.
Bei schwerem Sturm sank die M/S Estonia in der Nacht vom 28. auf den 29. September 1994 in internationalen Fahrwassern in der Ostsee. Von den 989 Menschen an Bord der Fähre auf dem Weg von Tallinn nach Stockholm konnten gerade einmal 137 gerettet werden. Für 852 wurde das Wrack auf dem Meeresboden zum Grab.
Mutmassliche Explosion an Bord
Bis heute sind die genauen Ursachen der Katastrophe nicht schlüssig geklärt: Während verschiedene internationale Untersuchungen ergaben, dass durchgerostete Scharniere am Bugvisier zum Unglück beitrugen, mutmassen andere über eine durch Unbekannte ausgelöste Explosion an Bord. Letztere fühlten sich in den letzten Jahren zu weiteren Untersuchungen ermutigt, da Bilder von Tauchgängen ein grosses Loch an der Seite der gesunkenen Fähre zeigen.
Allerdings hätten diese Bilder gemäss schwedischem Recht gar nie gemacht werden dürfen: Laut diesem gilt nämlich für das Estonia-Wrack die sogenannte Totenruhe. Während die Überreste einiger Dutzend ertrunkener Passagiere über die Jahre an die Küsten der umliegenden Länder gespült wurden, blieb die versunkene Fähre für die Allermeisten der Umgekommenen, die letzte Ruhestätte.
Da die M/S Estonia in internationalen Gewässern sank, bestanden von Beginn weg grosse rechtliche Unklarheiten darüber, wer in der Aufarbeitung der Katastrophe die Federführung hat. Die estnische Fähre wurde von einer deutschen Werft gebaut, der Unfall ereignete sich unweit der finnischen Seegrenze und die allermeisten Passagiere stammten aus Schweden.
Schwedisches Recht
Verschiedene Gerichte in verschiedenen Ländern – darunter vor drei Jahren auch ein französisches – konnten sich nicht auf die Frage des Schadenersatzes einigen. Letztes Jahr dann sprach das Göteborger Bezirksgericht zwei schwedische Journalisten von der Verletzung der Totenruhe frei, weil diese von einem deutschen Schiff aus die Tauchgänge zum Wrack durchgeführt hatten. Dagegen ging die schwedische Staatsanwaltschaft in Berufung bei einer höheren Instanz, die nun den Fall an das Bezirksgericht zurückgeschickt hat.
So müssen sich die Richterinnen und Richter in der westschwedischen Hafenstadt Göteborg ab Montag erneut mit dem Fall beschäftigen – und zwar nicht mit Blick auf das internationale, sondern auf das schwedische Recht – das die Totenruhe festschreibt.
Eine Klärung der ungeklärten Fragen rund um den Untergang der Estonia wird dieser Prozess wohl nicht bringen. Ebenso wenig wird das lange Leiden der Angehörigen beendet. So bleibt die Fährkatastrophe vom Herbst 1994 in Schweden und Nordeuropa eine offene Wunde.