Der Mensch kann nicht anders, als beim Anblick eines jungen Seehundes schockverliebt zu sein. Die grossen dunklen Augen, das scheinbar immer lachende «Gesicht». Der pummelige Körper, der sich an Land so tollpatschig bewegt. Doch diese Sympathie kann fatale Folgen haben.
Der Störfaktor Mensch
Zwischen Anfang Juni und Mitte Juli kommen die Seehundbabys in Ostfriesland zur Welt, nach elf Monaten Tragzeit. Gesäugt werden sie ausschliesslich an Land, auf einer Sandbank im Wattenmeer. Wegen Ebbe und Flut ist das Zeitfenster dafür kurz. Wird das Muttertier beim Säugen von Wattläufern, Kitesurferinnen, Spaziergängern, Kajakfahrerinnen gestört, beginnt unter Umständen ein Drama.
Das Muttertier flüchtet vor dem Störfaktor Mensch, das Junge, das wenig oder nichts von der fetten Muttermilch aufnehmen konnte, hinterher. Geschwächt verliert das Jungtier den Anschluss, wird abgetrieben. Verliert es endgültig den Kontakt zur Mutter, fängt das Seehundbaby an zu heulen, aus Hunger und Verlassenheit – es wird zum Heuler.
Übervolle Seehundstationen
Derzeit tummeln sich noch rund 80 verwaiste Seehundbabys in den Aussenbecken der Seehundstation Norddeich im ostfriesischen Norden – von rund 200 dieses Jahr. Eine Zahl, die stetig steigt. «Je mehr Gäste wir haben, desto mehr Störungen gibt es», klagt Tierpflegerin Ramona Fetting.
Weil die Warnung «Finger weg und 300 Meter Abstand halten» zu wenig respektiert wird und der Mensch oft für ein Selfie zu nah kommt. «Man muss sich vor Augen halten, was man damit kaputt macht, das ist doch kein Urlaubsfoto wert, dass man dadurch einen Heuler produziert!»
Dank lokalen Fischern, Tierschützern und Jagdaufsehern werden die allermeisten verwaisten Jungtiere gefunden und in eine Auffangstation wie jener in Norddeich gebracht. Manche in sehr schlechtem Zustand, abgemagert, schwer dehydriert, oft auch verletzt. «Da müssen wir viel Arbeit reinstecken, damit sie es schaffen.» Mit Ramona Fetting kümmern sich zwei Dutzend Tierpflegerinnen, Praktikanten, Freiwillige und Tierärzte gleichzeitig und rund um die Uhr um die Jungtiere.
Erst werden sie mit flüssigem Lachs gefüttert, das kommt am ehesten an die fette Seehundmilch heran. Nach rund acht Tagen werden sie auf Hering umgestellt. Die Seehundstation ist täglich für Besucher geöffnet, die Aufzucht der Heuler wird nur über Eintrittspreise und Spenden finanziert.
Auswilderung als Lohn
Langsam lernen die Heuler, Fische ganz zu schlucken, denen nachzujagen, die zu fixen Fütterungszeiten ins Becken geworfen werden. Nach durchschnittlich 63 Tagen sind die meisten soweit selbständig und können mit 25 Kilo Gewicht wieder ausgewildert werden.
Für vier junge Seehunde geht’s an diesem Tag zurück in die Freiheit. Sie werden an einem abgelegenen Strand auf der Insel Juist ausgesetzt. Für Ramona Fetting jeweils der schönste Moment und Entschädigung für aufopfernde Arbeit: «Wir freuen uns, dass sie wieder zurückkönnen, nach Hause eigentlich. Sie gehören nicht in unsere Station, wir sind nur ein kurzer Zwischenstopp, die zweite Chance. Da draussen wartet die See und ihr eigentliches Leben.»