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Selbstverständliche Freiheit EU: Arbeitnehmerfreizügigkeit ist zur Gewohnheit geworden

Als die Staaten wegen Corona unkoordiniert entschieden, wehrte sich die Zivilbevölkerung.

Die Corona-Pandemie hat allen EU-Bürgerinnen und Bürgern deutlich gemacht, dass ein Grundrecht, das zur Gewohnheit geworden ist, nicht auf ewig garantiert ist. Folgen habe das für die Akzeptanz der Personenfreizügigkeit in der EU, meint Lavinia Petrache, Juristin am Centrum für Europäische Politik in Freiburg im Breisgau.

Sie sagt: «Wir nehmen mittlerweile die Personenfreizügigkeit und die Arbeitnehmerfreizügigkeit als selbstverständlich an. Als die Mitgliedstaaten in der Coronakrise so unkoordiniert vorgegangen sind, wurden deshalb Stimmen aus der Zivilgesellschaft laut, die ein koordiniertes Vorgehen verlangten.»

17 Millionen Menschen in einem anderen EU-Land

Hoch ist die Akzeptanz ohnehin seit Jahrzehnten. Das zeigen Umfragen der Statistik-Behörde der EU in allen Ländern der EU. Nach jeder Erweiterungsrunde – vor allem nach dem Beitritt der osteuropäischen Länder – bewerten die Bürgerinnen und Bürger der neuen Mitgliedsländer die Personenfreizügigkeit als besonders positiven Aspekt eines EU-Beitritts.

17 Millionen Menschen leben oder arbeiten in einem anderen Land. Herausragend sei die Bedeutung der Personenfreizügigkeit für viele Menschen, erklärt die Expertin für europäisches Arbeitsrecht, Petrache: «Ich finde, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit eine wichtige Rolle hat. Es geht einerseits um die ökonomische, aber auch um die soziale Dimension. Es sind Menschen, die von dieser Freizügigkeit Gebrauch machen. Sie greifen nach den besten Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung.»

Petrache selber hat davon profitiert, frei wählen zu können, wo in Europa sie leben und arbeiten will und dass alle beruflichen Qualifikationen, die sie erworben hat, überall anerkannt werden.

Viele Hochqualifizierte

Typisch: Ein Drittel der Arbeitnehmer, die in einem anderen Land arbeiten, sind hoch qualifiziert. Mobil sind Arbeitnehmerinnen in erster Linie, weil überall Fachkräftemangel herrsche, erklärt Petraches Kollegin, die Wirtschaftswissenschaftlerin Karen Rudolph. Das erkläre zu einem grossen Teil, warum die EU-Personenfreizügigkeit keinen signifikanten allgemeinen Lohndruck in Europa auslöst.

«Auch in den Segmenten des Niedriglohnsektors haben wir in fast allen Bereichen einen Fachkräftemangel. Das bedeutet, dass der Lohn und der Druck nicht deutlich steigen müssten», so Rudolph.

Nur ein Teilbereich der Personenfreizügigkeit war in den letzten Jahren umstritten: Die Entsendungen von Arbeitskräften für eine kurze Dauer. Kürzlich wurden diese Möglichkeit aber vom Europäischen Parlament und den Mitgliedsstaaten eingeschränkt.

Entsendedauer ist kürzer

Die Entsendedauer wurde gekürzt; Mitarbeitende können nicht mehr angestellt werden, nur um explizit entsandt zu werden. Im Land, wo die Tätigkeit ausgeübt wird, gelten die gleichen Mindestlöhne wie für stationäre Arbeitnehmer.

Auch in der EU gelten also verschärfte «flankierende Massnahmen». In der jüngsten Revision der Entsende-Richtlinie sei ein klarer Trend zu mehr Protektionismus erkennbar, bedauert Petrache.

«Noch gefährlicher wäre es, die Idee aufzugeben, dass durch Wettbewerb irgendwann eine Angleichung des wirtschaftlichen Niveaus zwischen den Mitgliedstaaten stattfindet.»

Zumindest die Statistik gibt ihr recht: Osteuropa leidet besonders unter der Abwanderung von Arbeitskräften. Trotzdem gleicht sich der Wohlstand dieser Länder gegenüber Westeuropa immer mehr an.

Rendez-vous vom 07.09.2020

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