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Serbien Sechs Monate nach Unglück in Novi Sad gehen die Proteste weiter

In Serbien protestieren weiterhin Tausende Menschen gegen die Regierung – auch am gestrigen Tag der Arbeit in Belgrad und Novi Sad. Erstmals haben Studierende und grosse Gewerkschaften gemeinsam zur Grossdemonstration gerufen. Der Hintergrund der Proteste: In Novi Sad ist vor einem halben Jahr das Vordach des Bahnhofs eingestürzt, 16 Menschen kamen ums Leben. Die Regierung steht wegen Korruption in der Kritik. SRF-Auslandredaktor Janis Fahrländer schätzt die Lage ein.

Janis Fahrländer

Auslandredaktor

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Janis Fahrländer ist Redaktor in der Auslandredaktion von Radio SRF. Dort ist er zuständig für die Berichterstattung über die Balkanstaaten.

Wie war die Situation an den Demonstrationen in Belgrad und Novi Sad?

In den beiden grössten Städten Serbiens waren die Proteste friedlich und bunt. In Novi Sad haben Tausende erst am Unglücksort, also am Bahnhof, den Opfern gedacht. Anschliessend blockierten sie für mehrere Stunden eine Brücke. In Belgrad kam es gestern, am 1. Mai, zu einem Zusammenschluss zwischen Gewerkschaften und Studierenden. Das ist bemerkenswert, da sich erstmals die fünf grössten Gewerkschaften des Landes zusammengetan und mit den Studierenden solidarisiert haben. Zusammen repräsentieren die Gewerkschaften eine halbe Million Arbeitnehmende – eine ziemliche Kraft. Klassische Gewerkschaftsforderungen für bessere Arbeitsbedingungen vermischten sich so mit den Forderungen der Studierenden, die sich hauptsächlich auf Korruption fokussierten. Und: Auch die Regierung versammelte ihre Anhängerinnen und Anhänger vor dem Parlament.

Demonstration mit Pikachu-Plakat und serbischer Flagge.
Legende: Tausende Menschen protestierten am 1. Mai 2025 in Serbien gegen die Regierung. Keystone/DARKO VOJINOVIC

Was ist seit dem Unglück in Novi Sad passiert?

Die grösste Veränderung gibt es vermutlich in der Gesellschaft. Viele Menschen waren vor dem Unglück apathisch. Jene, die gegen die Regierung waren, haben entweder die politischen Verhältnisse hingenommen oder sie suchten ihr Glück im Ausland. Viele Menschen haben mir erzählt, sie wüssten schon lange, dass die regierende Elite korrupt sei und sich schamlos am Staat bediene. Doch es brauchte für diese Menschen diesen tragischen Tod der 16 Opfer von Novi Sad.

Speziell an den aktuellen Protesten

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Politisch seien die Veränderungen auf den ersten Blick zwar nicht sehr gross, sagt Auslandskorrespondent Fahrländer. «Neu ist aber, dass die Protestbewegung von allen Teilen des Landes getragen wird, also von Jung und Alt, Stadt und Land, und dies eben über verschiedene Volksgruppen hinweg. Dadurch unterscheidet sich diese Protestbewegung von früheren Protesten.»

Die Forderungen der Protestierenden wurden bislang nicht umgesetzt. Aleksandar Vučić sitzt weiterhin fest im Sattel. Doch er steht unter einem so grossen Druck wie noch nie. Und es gelingt ihm und seiner Regierung auch immer weniger, ihre Narrative zu verbreiten.

Bei der Aufklärung des Unglücks in Novi Sad gibt es immer noch Lücken. Warum?

Diese Aufklärung wird bewusst verschleppt. Offiziell gibt es zwar eine Untersuchung möglicher Verfehlungen beim Bau. Auch die Spezialanwaltschaft geht der Frage nach, ob es bei der Vergabe der Bauaufträge mögliche Korruption gegeben habe. Doch bis jetzt wurde noch keine Anklage erhoben. Deshalb kritisierte beispielsweise der Anwalt einer Mutter, die beim Bahnhofsunglück ihren Sohn verloren hatte, die Untersuchung gegenüber Medien erneut als ungenügend.

So reagierte Präsident Vučić auf Kritik

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Serbiens Präsident Aleksandar Vučić hat einen in der Öffentlichkeit bislang kaum bekannten Universitätsprofessor zum neuen Premierminister ernannt. Sein Name: Djuro Macut, parteilos. «Damit sollte wohl Entgegenkommen suggeriert werden», schätzt Fahrländer ein. Denn ein Teil der Studierenden fordere die Bildung einer Übergangsregierung aus unabhängigen Expertinnen und Experten, bis es Neuwahlen gibt. «Aber Macut ist eigentlich eben nicht unabhängig.» Er habe sich während der Proteste als Unterstützer Vučićs zu erkennen gegeben. «Viele der Ministerinnen und Minister stehen Präsident Vučić sehr nahe. Zudem wissen die Serbinnen und Serben, dass die Entscheidungen sowieso vom Präsidenten gefällt werden und es eigentlich egal ist, wer nominell gerade Premierminister ist», erklärt der Korrespondent weiter.

Viele Menschen glauben, dass die offiziellen Stellen der Regierung, die für diese Untersuchung zuständig sind, die Aspekte der vorgeworfenen Korruption nicht aufklären wollen.

Unzufriedene Protestierende – Präsident Vučić : Wer sitzt in den nächsten Monaten am längeren Hebel?

Das wird sich zeigen müssen. Präsident Vučić sitzt derzeit fest im Sattel und ist auch nicht bereit, Zugeständnisse zu machen. Im Gegenteil: Seine Rhetorik wurde zuletzt aus meiner Sicht eher aggressiver. Er bezeichnete die Proteste als vom Ausland gesteuerte Revolution, die Serbien destabilisieren solle. Auf der anderen Seite sehe ich aber auch nicht, dass das Land wieder zum Courant normal zurückkehren wird. Die Menschen scheinen entschlossen, weiterzumachen. Ich sehe derzeit keine politische Lösung.

SRF 4 News, 2.5.2025, 7:27 Uhr ; 

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