Seit vier Jahren lebt und arbeitet SRF-Korrespondent Oliver Washington in Brüssel, dem Sitz der Europäischen Union. Im Gespräch erzählt er, wie es ihm als Journalist aus einem kleinen Nicht-Mitgliedsland im Bürokratie-Moloch Brüssel ergeht – und warum ihn die Stadt fasziniert.
SRF News: Bei Touristen kommt Brüssel nicht gerade gut weg. In einer Internet-Umfrage wurde es zur langweiligsten Stadt Europas erkoren. Zu Recht?
Oliver Washington: Nein, das sehe ich nicht so. Durch die EU ist in Brüssel das Multikulturelle sehr präsent. Wenn ich mit meinen Kindern auf einem Spielplatz bin, dann hört man Finnisch, Spanisch, Portugiesisch. Man spürt, dass das hier gewissermassen das europäische Epizentrum ist.
Das EU-Viertel ist ein ziemlich hässliches Quartier mit breiten Strassenschluchten und heruntergekommenen Bürogebäuden.
Ausserdem verfügt die etwas chaotische Stadt über wunderbare Wohnquartiere mit vielen Gebäuden vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch der Jugendstil ist in der Architektur sehr präsent. Manche Brüsseler sind überzeugt, sie hätten ihn erfunden und nicht die Wiener.
Andererseits wurde für das EU-Viertel, wo beispielsweise jeweils die Gipfeltreffen stattfinden, ein historisches Quartier geopfert. Ist dieses EU-Brüssel also gewissermassen eine abgeschlossene Insel in der belgischen Hauptstadt?
Während der Gipfeltreffen ist das tatsächlich der Fall, die Sicherheitsvorkehrungen sind bei 28 Staats- und Regierungschefs jeweils natürlich enorm. In der übrigen Zeit ist das Quartier zwar keine abgeschlossene Festung, aber den Charme Brüssels findet man hier tatsächlich nicht. Es ist ein ziemlich hässliches, schachbrettartig angeordnetes Quartier mit breiten Strassenschluchten und meist etwas heruntergekommenen Bürogebäuden.
85'000 Menschen arbeiten in diesem «hässlichen» Europa. Das tönt, als sei hier der schlechte Ruf der EU als Verwaltungsmoloch physisch sichtbar. Wie erleben Sie dieses «Bürokratiemonster» im Alltag?
Meine anfängliche Angst, die Bürokratie könnte den persönlichen Kontakt zu den Politikern versperren, hat sich nicht bewahrheitet. Auch als Schweizer Journalisten haben wir Zugang zu Parlamentariern und EU-Kommissaren.
Das Bild einer abgeschotteten EU-Zentrale entspricht nicht der Realität.
Das gilt auch für die für unsere Arbeit sehr wichtigen Hintergrundgespräche, die es immer wieder mit den verschiedenen Botschaftern der EU-Staaten gibt. Dazu kommen die für alle zugänglichen diversen Medienkonferenzen nach den Gipfeltreffen. Das Bild einer abgeschotteten EU-Zentrale entspricht nicht der Realität.
Sie können sich also auch als Journalist aus einem kleinen Nicht-EU-Staat neben den grossen Playern wie der BBC oder CNN behaupten?
Wir haben zumindest alle die gleichen Zugänge. Natürlich haben wir als Schweizer auf einer Medienkonferenz von Angela Merkel geringere Chancen auf die Beantwortung einer Frage als die Kollegen vom ZDF. Und auch Einzelgespräche mit Politikern wie der Kanzlerin oder dem französischen Präsidenten sind für uns Schweizer kaum möglich, aber das ist auch verständlich.
Das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU ist derzeit wegen der Differenzen rund um das Rahmenabkommen etwas angespannt. Bekommen Sie das in Brüssel zu spüren?
Nein, auf mich als Journalist, der hier seine Arbeit macht, fällt das überhaupt nicht zurück. Diesbezüglich läuft hier alles sehr professionell. Und dann ist da ja noch die Sache mit dem Brexit, die Brüssel gerade unendlich viel mehr beschäftigt als das doch eher «kleine» Problem mit der Schweiz.
Das Gespräch führte Romana Costa.