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Sonderdebatte zu Afghanistan Wundenlecken in Westminster

Das britische Parlament diskutiert das Scheitern am Hindukusch. Die Regierung Johnson gerät massiv unter Beschuss.

Es war kein guter Tag für Boris Johnson. Während sechs Stunden stand der Premierminister politisch im Regen. Das grösste aussenpolitische Versagen der Briten seit der Suezkrise im Jahre 1956 nannte der schottische Abgeordnete Ian Blackford den Rückzug aus Afghanistan: «Die Bilder, wie Hunderte von Menschen auf einem Rollfeld in Kabul in ihrer Not versuchen auf eine startende Transportmaschine aufzuspringen, werden uns wohl bis ans Ende unseres Lebens begleiten.»

Diese Szenen würden sich zwar in weiter Ferne abspielen, doch die geografische Distanz zwischen London und Kabul mache die moralische Schuld an diesem Debakel nicht kleiner. Dass die britische Regierung noch vor wenigen Tagen Visumsanträge von Afghaninnen und Afghanen abgelehnt habe, sei eine Schande. «Niemand, der in Afghanistan für die Briten gearbeitet hat und nun an Leib und Leben gefährdet ist, darf zurückgelassen werden. Niemand.»

Die Regierung hat bereits am Mittwochmorgen angekündigt, langfristig 20'000 Flüchtlinge aus Afghanistan aufzunehmen. Der britische Botschafter harrt immer noch in Kabul am Flughafen aus und erteilt unbürokratisch Visa. Das sei gut und recht, meinte die frühere konservative Premierministerin Theresa May, aber sie wollte von der Regierung wissen, wie es überhaupt zu diesem Debakel kommen konnte.

Der Entscheid der USA, sich aus Afghanistan zurückzuziehen, sei schliesslich nicht gestern, sondern vor 18 Monaten gefallen. «Waren unsere Nachrichtendienste so schlecht informiert, war unsere Einschätzung der afghanischen Regierung so falsch und unser Wissen über die Lage vor Ort so ungenügend, dass wir trotz dieser Vorlaufzeit in diese Situation geraten konnten – oder fühlten wir uns verpflichtet, den USA einfach blind zu folgen?»

Labour-Chef Keir Starmer glaubt die Antwort zu kennen: Der Premierminister habe schlicht keinen Plan gehabt und dies sei unverzeihlich. «Boris Johnson hatte die Möglichkeit, in dieser Krise eine Führungsrolle zu übernehmen: Grossbritannien ist im UN-Sicherheitsrat, wir spielen eine Schlüsselrolle in der Nato und wir haben zurzeit den Vorsitz inne der G7-Staaten – aber wir haben diese Position schlicht nicht genutzt.»

Ein sichtlich geknickter Boris Johnson ging in gewohnter Weise nicht auf die Vorwürfe ein. Es sei eine Illusion zu glauben, dass Grossbritannien allein den Kollaps in Afghanistan hätte verhindern können. «Die Verteidigung der Menschenrechte in Afghanistan wird unsere höchste Priorität bleiben. Wir haben bereits viel erreicht. Das Land ist heute nicht mehr eine Brutstätte des globalen Terrorismus und wir werden dem afghanischen Volk weiterhin beistehen, die bestmögliche Zukunft zu finden.»

140'000 Britinnen und Briten haben in den vergangenen 20 Jahren als Armeeangehörige, Diplomatinnen oder Entwicklungshelfer in Afghanistan vergeblich an dieser Zukunft gearbeitet. Einige Tausend von ihnen sind schwer verletzt zurückgekehrt – und 457 gar nicht mehr. Für deren Angehörige mögen die Worte des Premierministers allenfalls schön, aber wahrscheinlich wenig tröstlich sein.

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Echo der Zeit, 18.08.2021, 18 Uhr

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