463'000 SPD-Mitglieder können seit zwei Wochen brieflich darüber abstimmen, ob die Sozialdemokraten auch die nächsten vier Jahre mit Merkels Union regieren sollen. Am Sonntagmorgen um 9 Uhr werden Olaf Scholz und Andrea Nahles im Willy-Brandt-Haus das Schicksal der Grossen Koalition (GroKo) verkünden.
Die Zeichen in der SPD stehen eher auf Ja. Auch deshalb mobilisiert der 28-jährige Kevin Kühnert weiter. Der Sohn eines Finanzbeamten und einer Job-Center Mitarbeiterin füllt seit Wochen Hallen und Säle. Manchmal mehrmals am Tag. Gibt täglich dutzende Interviews. Steht nach Politveranstaltungen gerade für Selfies.
Kühnert tourt von Nord nach Süd, von Ost nach West. Egal, wie das Mitgliedervotum ausgehen wird, die SPD hat einen neuen Star. Einen für den linken Flügel der Partei.
«Es ist legitim, Nein zu sagen»
In Göttingen ist der Hörsaal der Universität bis auf den letzten Platz gefüllt. Jüngere und Ältere sind da, wollen hören, warum Kühnert die Grosse Koalition Teufelszeug nennt. Wer einen lauten Rebellen erwartet, wird enttäuscht. Kühnert poltert nicht vorne am Pult.
Eher wie ein Professor analysiert der Soziologiestudent, was die Grosse Koalition in den letzten vier Jahren mit seiner Partei gemacht hat. Die SPD habe verlernt Fragen zu stellen, habe sich treiben lassen, nicht mehr agiert, nur reagiert und genau das getan, was sie, die SPD, immer so kritisiert habe an Angela Merkels lethargisch einschläferndem Regierungsstil.
Und genau das versuche er nun aufzubrechen. «Deshalb ist es legitim, Nein zu sagen», sagt Kühnert dem SRF im Anschluss an seine Rede, «und die SPD wird danach auch nicht untergehen, sondern sich in der Opposition grundlegend erneuern können».
Keine Angst vor dem totalen Absturz
Kühnert will eine SPD, die sich deutlicher abgrenzt von Merkels Union. Die wieder kämpft für die Interessen der Schwächsten der Gesellschaft. Die primär die Anliegen der Arbeitnehmer und nicht die der Arbeitgeber vertritt. Er ist überzeugt, dass dies als mitregierende Partei weniger möglich ist als in der Opposition.
Damit unterscheidet er sich eigentlich wenig von den Positionen, welche der SPD Parteivorstand vertritt. Aber anders als die Parteispitzen hat Kühnert keine Angst vor dem totalen Absturz der SPD, sollte diese mit einem Nein Deutschland in eine weitere monatelange Hängepartie ohne handlungsfähige Regierung schicken.
Ehrliche Bewertung statt Angstentscheidung
In einzelnen Umfragen ist die SPD in der Wählergunst zuletzt auf 16-18 Prozent abgestürzt. Dabei ist ihr die AfD bedrohlich auf den Fersen. Die stolze Volkspartei gleichauf oder überholt von den neuen Rechtsnationalen, dieses Schreckensszenario ist für viele Parteispitzen zur Zeit eines der Hauptargumente in ihrem Werben für die GroKo.
So tut es auch Matthias Miersch, stellvertretender Fraktionschef der SPD, abends in Hannover. Die Bezirks-Juso hat eingeladen zur Meinungsdebatte. Im Rededuell mit Kühnert sagt Miersch, die SPD könnte in schwerste Fahrwasser geraten, sollte am Sonntag ein Nein resultieren.
Kühnert entgegnet, er werbe darum «dass wir keine Angstentscheidung daraus machen, sondern dass alle nach ehrlicher Bewertung ihr Kreuzchen bei Ja oder bei Nein setzen und nicht auf Basis von Szenarien, die da lauten: Die SPD geht unter oder das Land wird ins Chaos stürzen.»
Den letzten Umfragen zufolge wollen 55 Prozent der SPD Mitglieder dem Koalitionsvertrag zustimmen. Sollte sich doch wider Erwarten Kühnerts Nein-Fraktion durchsetzen, geht die SPD in die Opposition. Und Deutschland politisch ungewissen Zeiten entgegen.