Unser Flugzeug ist soeben in Ürümqi gelandet, der grössten Stadt Xinjiangs. Die Passagiere stehen bereits im Gang, bereit zum Aussteigen. Wir dagegen müssen sitzen bleiben, teilt uns die Flugbegleiterin mit. Polizisten betreten das Flugzeug und wollen unsere Pässe sehen, fragen nach den Telefonnummern und der Hotelreservierung.
Die Beamten sind aber überaus höflich, und lassen uns nach der Kontrolle aussteigen. Es soll die erste von vielen solcher Begegnungen sein auf unserer Reise am nordwestlichen Rand von China – rund 3000 Kilometer von Shanghai entfernt.
Propaganda aus dem Lautsprecher
Im Stadtzentrum von Ürümqi stehen Moscheen, Minarette ragen in die Höhe, an Ständen gibt es Lammspiesse, Gruppen von Männern trinken Tee, einige Passantinnen tragen Kopftücher.
Die chinesischen Flaggen an den Geschäften, vor den Moscheen und die chinesischen Schriftzeichen erinnern die Besucher daran, dass sie noch immer in China sind. Aus einem Lautsprecher neben dem Bazar ertönt die chinesische Regierungspropaganda: Das Glück, der Erfolg und die Sicherheit aller ethnischen Gruppen in Xinjiang verbesserten sich ununterbrochen, sagt die Stimme. Dank Xi Jinping und den Anstrengungen der Partei und der Bevölkerung.
Was sofort auffällt: Im Vergleich zu unserem Besuch vor zweieinhalb Jahren: Die Anzahl der Militär- und Polizeikontrollen an den Strassenkreuzungen hat sichtlich abgenommen. Doch überall sind Kameras montiert, an Hauseingängen, vor Läden. Zugang zu vielen Wohnsiedlungen gibt es nur nach einer Gesichtserkennung.
Das gilt auch für die Moschee im Stadtzentrum. Auch da überall Kameras, Zugang mit Identitätskarte und Gesichtserkennung.
Ein chinesischer Mann, der uns auf dem Trottoir zum ersten Mal begegnet, taucht später in einem Geschäft neben uns auf, und in einem Restaurant. Wenn wir anhalten, hält er ebenfalls an. Wenn wir weitergehen, geht er weiter – mit weniger als zwei Metern Abstand. Wir stellen ihn zur Rede: «Hallo, gibt es ein Problem?», fragen wir ihn. «Nein, nichts», murmelt er und wendet sich von uns ab. «Wieso folgen Sie uns?» «Ich spaziere hier nur», antwortet er.
Auf der anderen Seite der Strasse steht ein Polizeiauto, dahinter eine Frau und zwei Männer in Zivil. Sie und weitere Personen folgen uns danach auf Schritt und Tritt. Unabhängige Interviews führen, das wird schnell klar, ist unmöglich – fast.
Interviewpartner haben Angst
Wir versuchen an weiteren Orten Xinjiangs, Kontakt aufzunehmen. Doch selbst dies gestaltet sich äusserst schwierig. Zum Beispiel bei einem Gespräch in einem Auto, der Fahrer ist Uigure. Über Kultur können wir reden, übers Essen, sagt er. Fragen zur politischen Situation?
Darüber sollte man besser nicht sprechen, sagt er, und blockt ab. Das Gespräch ist rasch beendet. Einen weiteren Versuch unternehmen wir in einem Stoffgeschäft. Mit mässigem Erfolg. Es sei nicht sicher, sagt uns ein Uigure.
Kurze Interaktionen gelingen uns schliesslich mit aufgeschriebenen Fragen, die wir via Software auf Uigurisch übersetzen. Es sind geschlossene Fragen, die mit einem Ja oder Nein beantwortet werden können. Etwa «Waren Sie selbst schon mal in einem Lager?» oder «Können Sie frei reden?», «Haben Sie Angst?». Die von uns befragten Uigurinnen und Uiguren nicken kurz mit dem Kopf.
«Uiguren haben es gut hier»
Über eine Million Uigurinnen und Uiguren und Mitglieder anderer ethnischen Minderheiten in Xinjiang sollen in Internierungslagern festgehalten werden, die Vorwürfe reichen von Zwangsarbeit über Folter bis zu Zwangssterilisierungen .
Mit Han-Chinesinnen und Chinesen ist es dagegen deutlich einfacher zu sprechen. Ein chinesischer Taxifahrer etwa erklärt uns offen, was er von Chinas Minderheitenpolitik hält. Die Uigurinnen und Uiguren würden bevorzugt behandelt, ist er überzeugt. Wenn Han-Chinesen ihre Arbeit verlören, seien sie auf sich allein gestellt, für die Uiguren dagegen würden Arbeitsplätze geschaffen. Sie könnten sich glücklich schätzen, dass sie von China so gut behandelt würden.
Muslimischer Friedhof wird zum Freizeitpark
Eine Gruppe chinesischer Frauen tanzt im Gleichschritt in einer grosszügigen Parkanlage in der Stadt Aksu. Im «Park des Glücks» stehen eine Pagode, ein geschwungener Teich und übergrosse Pandabär-Figuren. Es sieht durch und durch chinesisch aus.
Hier, wo diese Chinesinnen fröhlich tanzen, lagen bis vor rund drei Jahren noch Gräber. Gräber des traditionellen muslimischen Friedhofs, wo die Uigurinnen und Uiguren ihre verstorbenen Angehörigen betrauern konnten. Die muslimischen Gräber wurden offiziell an den Stadtrand verlegt, damit dieser chinesische Park errichtet werden konnte.
Jetzt stehen hier ein Kinderkarussell und ein Stand mit Teddybären. Was halten die chinesischen Parkbesucherinnen davon, dass dies früher ein muslimischer Friedhof war? Eine Frau, die mit ihrem Kind durch die Anlage spaziert, sagt, ihr würde der Park gefallen. Früher hätten hier nur Muslime Zutritt gehabt, jetzt sei er für alle zugänglich.
Es handelt sich um einen von mehreren Dutzend traditionellen muslimischen Friedhöfen, die die chinesischen Behörden in den vergangenen Jahren zerstört haben – die französische Nachrichtenagentur AFP hat das Ausmass mit der Auswertung von Satellitenbildern dokumentiert.
«Fake News» aus dem Westen
Eine weitere Chinesin reagiert erbost auf die Frage, was sie von der Umnutzung des Friedhofs hält. «Ihr ausländischen Medien nutzt Fotos hier aus Xinjiang und sagt, wir würden Menschen unterdrücken».
Alles Quatsch, sagt sie, auch die Behauptungen der Internierungslager, eine Erfindung der ausländischen Medien. Von Menschenrechtsverletzungen will hier niemand etwas wissen.
In der Stadt Aksu versuchen wir denn auch ein Lager zu besuchen. Das Australien Policy Institute ASPI berichtet von über 380 Internierungslagern – mit unterschiedlichen Sicherheitsstufen. Dank Satellitenaufnahmen und Koordinaten , die ASPI veröffentlicht hat, lassen sich die Lager auf der Karte rasch ausmachen.
Suche nach Internierungslager
Eines davon liegt unweit vom Stadtrand, laut ASPI hat das Lager Wachtürme und integrierte Fabriken. Wir steigen in ein Taxi und fahren los. Wir wollen wissen, ob das Lager noch in Betrieb ist.
Eine karge Landschaft mit vereinzelten Industriegebäuden zieht an uns vorbei. Der Fahrer ist etwas verwundert über die von uns angegebene Adresse, schliesslich gibt es dort offiziell nichts zu sehen.
Nach rund einer halben Stunde kommen wir an, wir sehen die Gebäude, den Eingang und die Mauer der Anlage. Auf einem Gebäude prangt der chinesische Name der chinesischen Firma «Xunlin Electronics». Das Unternehmen stellt Elektronikteile her, auf eine spätere Anfrage von RTS/SRF reagierte die Firma jedoch nicht.
Auf einem anderen Gebäude steht der bekannte Propaganda-Slogan «Die verschiedenen Ethnien halten so eng zusammen wie die Kerne eines Granatapfels».
Laut ASPI befinden sich hier sieben integrierte Fabriken. Satellitenaufnahmen von 2018 zeigen auf dem Gelände Häftlinge in orangefarbenen Overalls. Während wir die Gebäude vom fahrenden Auto aus betrachten, geht es plötzlich ganz schnell.
Fahrer dreht um
Das Handy des Fahrers klingelt. Der Anrufer sagt ihm, er solle den Lautsprecher seines Mobiltelefons ausschalten. Das Taxi hält an, im Niemandsland. Was los sei, wollen wir wissen. Doch der Fahrer wendet und fährt in die entgegengesetzte Richtung. Er müsse zurück in die Stadt, sagt er noch, und fährt uns schliesslich zum nächsten Polizeiposten.
Wir müssen im Auto sitzen bleiben, während der Fahrer sich mit der Polizei unterhält. Er müsse uns nur rasch registrieren, sagt er. Die Frage, weshalb wir nicht zu unserem Ziel fahren dürfen – dem Lager – will er nicht beantworten.
Anders als noch bei unserem letzten Besuch in Xinjiang müssen wir dieses Mal keine Fotos löschen, die Polizei lässt uns in Ruhe, und übt ihren Druck indirekt und subtiler aus.
Die chinesischen Behörden haben im Umgang mit ausländischen Journalisten dazugelernt. Für ausländische Delegationsbesuche oder gar einen Besuch der UNO scheint man hier bestens vorbereitet.