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Steigende Mordrate in den USA Waffengewalt: Wie Teenager nicht zu Verbrechern werden sollen

Junge Männer vor der kriminellen Karriere abhalten? Jugendhelfer, die einst selbst Verbrecher waren, wagen den Versuch.

Die Mordrate ist in den USA in den letzten zwei Jahren stark gestiegen. Viele Städte sind besonders von Waffengewalt betroffen – keine mehr als Jackson im Bundesstaat Mississippi. Opfer und Täter sind häufig jung. Zwei ehemalige Kriminelle haben es sich zum Lebensziel gemacht, die Gewaltspirale zu stoppen.

Terun Moore und Benny Ivey haben früh Fehler gemacht

«Ich machte einen Fehler mit 17», sagt Terun Moore. «Ich bekam lebenslänglich wegen eines Tötungsdeliktes. Sass 19 1/2 Jahre, bis ich nach Hause kam. Von da an wollte ich Kindern helfen, damit sie nicht ihr Leben zerstören wie ich.» Moores Augen sind feucht. Was in seinem Leben geschehen ist, darüber fällt es ihm schwer zu sprechen. Nun ist es seine Mission, Jugendliche zu unterstützen, dass sie nicht seine Fehler machen.

Mann sitzt nben Jugendlichen
Legende: Terun Moore will nicht, dass die Jugendlichen dieselben Fehler machen wie er. Er will ihnen helfen, keine Kriminellenkarriere zu durchlaufen. SRF

«Ich rauchte Crack mit meinen Eltern», berichtet Benny Ivey. «Mit 15 brach ich die Schule ab, brach in Häuser ein, damit meine Familie Drogen hatte. Ich war 11 Jahre im Gefängnis, war das höchste Gang-Mitglied in Zentral-Mississippi.» Ivey ist Co-Direktor der Organisation «Strong Arms of Jackson». Er, Terun Moore und die anderen Männer von «Strong Arms» wüssten, was es heisst, auf der Strasse, in Gangs, Verbrecher zu sein. Damit seien sie glaubwürdig für Jugendliche, die jetzt auf dem Weg einer Kriminellen-Karriere seien.

Spielen, essen, reden statt Knast

Spielen ist für diese Jugendlichen selten möglich  – in einem Gemeinschaftszentrum in South Jackson können sie das nachholen. Die Jugendliche trudeln am späten Nachmittag ein. Sie kommen mehrmals pro Woche. Terun Moore liefert sich mit ihnen ein schweisstreibendes Basketball-Spiel.

Die Teenager werden Terun Moore, Benny Ivey und den anderen Mentoren von «Strong arms ofJackson» oft von Jugendgerichten zugewiesen. Der Grund: Von der Schule geworfen, Drogen, Autodiebstähle, Schiessereien. Selbst der ehemalige Gangchef Ivey sieht die Entwicklung in der Stadt als gravierend an.

Es gab bereits viel Kriminalität hier als ich ein Kind war. Wir waren diejenigen, die die Verbrechen begingen. Aber rückblickend war es nicht so schlimm wie heute.
Autor: Benny Ivey Jugendhelfer und einstiger Gang-Chef

Die Mentoren wollen verhindern, dass die jungen Männer ins Gefängnis kommen. Zuerst wird gespielt. Dann gibt es etwas zu essen – auch das ist nicht selbstverständlich für diese Jugendlichen. Und dann: reden.

Corona als Treiber der Entwicklung

Es gebe mehrere Gründe für die zunehmende Kriminalität, sagt Ivey. Doch er sieht die Pandemie als Auslöser an. «Als die Pandemie ausbrach, schlossen sie die Schulen, und all die Kids hatten nichts mehr zu tun. Und da stieg die Zahl der Schiessereien an. Die hängen täglich auf der Strasse.»

Mann hält Stock und spricht zu Jugendlichen
Legende: Benny Ivey ermuntert die Jugendlichen, offen zu sein für Menschen, die ihnen helfen wollen. Denn er selbst habe diese Chance verpasst. SRF

Ivey verwirft die Arme. «Man findet in dieser Stadt nicht einmal einen Basketball-Korb, wo sie spielen können. Nichts. Es gibt nichts zu tun.» Viele der Jugendlichen kämen aus armen Quartieren, mit heruntergekommenen Spielplätzen und verlassenen Parks, ergänzt Moore.

Wer durch einige der verwahrlosten Quartiere von Jackson fährt, weiss, was Moore meint. Häuser mit vernagelten Fenstern und Plastikplanen über den Dächern. Leerstehende Läden und Einkaufszentren.

Einige dieser Quartiere sind auch richtig gefährlich. Die Tötungsdelikte sind zuletzt in vielen Städten der USA angestiegen – doch in Jackson extrem.

Jackson durch Geschichte der Rassentrennung belastet

Farish street war einst eine Strasse mit florierenden Geschäften. Heute wirkt sie wie die Filmkulisse einer verlassenen Stadt. Jackson, mit einer belasteten Geschichte der Rassentrennung zwischen Schwarz und Weiss, verliert Einwohner. Nachdem die Rassentrennung aufgehoben wurde, die Schulen gemischt wurden, verliessen viele Weisse die Stadt. Später auch die Schwarzen, die es sich leisten konnten. Geblieben sind vor allem die Armen.

Mordrate auf Höchststand seit 90er Jahren

Box aufklappen Box zuklappen

20'922 Menschen in den USA sind 2021 durch Schusswaffen getötet worden. Über 1500 waren Kinder oder Teenager. Tod durch Schusswaffen ist inzwischen die häufigste Todesursache für Kinder, noch vor Verkehrsunfällen.


Die Mordrate pro Kopf ist in den USA in den letzten zwei Jahren deutlich gestiegen. Sie war 2020 die höchste seit Mitte der 1990er Jahre, aber noch deutlich unter der Zahl in den 1970er Jahren.


In den USA gibt es 120 Waffen pro 100 Menschen , das sind die Waffen in zivilen Händen ohne Militär und Polizei gerechnet. Im internationalen Vergleich ist das ein Rekordwert.


John Byrd setzt sich in einer Nachbarschaftsvereinigung dafür ein, die Quartiere wieder attraktiver und sicherer zu machen. Er hat für die Stadt die Verbrechensstatistik analysiert.

Mann schaut auf heruntergekommenes Gebäude
Legende: John Byrd arbeitet dafür, dass verwahrloste Quartiere wieder lebensfreundlicher werden. So will er den Abwanderung von Einwohnern und Geld aus der Stadt stoppen. SRF

«Die Verbrechen werden von immer jüngeren Personen verübt.  Meist sind sie zwischen 13 und 32 Jahre alt», sagt Byrd. Der Polizei fehle es zudem an Personal. Das Justizsystem sei überlastet. Verbrechen würden nicht genügend verfolgt und aufgeklärt.

Auch Unbeteiligte werden zum Opfer

Das trifft manchmal auch Unbeteiligte, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind. Wie Kennedy Hobbs an einer Tankstelle in Jackson vor rund einem Jahr.

«Sie kam gerade von ihrer High-School-Abschlussparty. Sie wollte vielleicht hier tanken», erzählt ihr Vater Ken Hobbs. «Soweit ich weiss, war es eine Gruppe Teenager, die feierte, weil sie eben die Highschool abgeschlossen hatte. Dann gab  es ein Streit und eine Schiesserei.»

Mann stehet neben Grab mit Blumen
Legende: Ken Hobbs trauert um seine Tochter Kennedy. Sie wurde am Tag ihres High-School-Abschlusses erschossen. SRF

Kennedy Hobbs wurde am Tag ihrer High-School-Abschlussfeier erschossen. Ihr Vater weiss nicht, wer den Abzug gedrückt hat. Die Ermittlungen der Polizei verliefen bisher ohne Ergebnis.  Das macht es ihm noch schwerer, den Tod seines Kindes zu verarbeiten.

Er zeigt das Grab seiner erstgeborenen Tochter. Es ist ein sonniger Tag, der Friedhof unwirklich idyllisch, wenn es nicht der Ort von so viel Gram wäre.

«Sie war ein Cheerleader. Sie liebte es zu tanzen. Sie wollte die Welt schöner machen, sie war ein fröhlicher Geist.»

Hobbs steht lange vor dem Grab. Er wischt die Tränen nicht weg. Es ist ein furchtbarer Schicksalsschlag für ihn – und es geschieht tausendfach in den USA, jedes Jahr. Schusswaffen sind inzwischen die häufigste Todesursache für Kinder.

Zu viele Kinder mit Pistolen an der Hüfte

Die Mentoren von Strong arms wollen verhindern, dass es so weit kommt. Doch die enorm liberalen Waffengesetze und Waffenkultur in Mississippi  erschweren das. Benny Ivey sagt, er sei kein Gegner von Waffen. Aber die Waffengesetze in Mississippi seien einfach nicht vernünftig. «Es gibt so viele Kinder mit Schusswaffen. Die Waffenkultur ist so gross hier.»

Und wenn all die Kids Pistolen an der Hüfte tragen, und es einen Streit gibt, dann muss man der Schnellere sein oder wird sterben. So denken sie hier.
Autor: Benny Ivey Jugendhelfer und einstiger Gang-Chef

Armut, Waffen, Pandemie, überforderte Polizei – Es sind Probleme, die auch in anderen Städten Faktoren sind für den Anstieg der Tötungsdelikte.

Sie wollen den Jugendlichen einen anderen Weg zeigen als die Strasse, ihnen beibringen, Konflikte zu lösen und in zerrütteten Familien ihren Weg zu finden. Vorbilder sein, wo solche fehlen.

Mentoren und Jugendliche sitzen im Kreis
Legende: Nach dem Spielen und Essen das Reden: Die Mentoren erzählen den gefährdeten Jugendlichen ihre eigene Geschichte und wirken so glaubwürdig. SRF / Viviane Manz

Die Mentoren sitzen mit den Jugendlichen in einem Kreis und geben einen Stock herum. Sie erzählen ihre eigene Geschichte. Dazwischen schauen sie einen Film. Es geht um einen Vater, der seinen Sohn versetzt und das versprochene gemeinsame Wochenende absagt – wie immer.

«In schwarzen Familien gibt es sehr viele alleinerziehende Mütter. Viele Väter sind abwesend – ob im Gefängnis, auf der Strasse, im Grab – und das hinterlässt eine Leere im Leben unserer jungen Männer», sagt Terun Moore.

Ich lebe im Dreck – und bin also Dreck?

Benny erzählt, er habe in einer Hütte gewohnt in einem verwahrlosten Quartier. Er habe gedacht: Ich lebe im Dreck, ich bin Dreck, und ich werde es immer sein. Ein Lehrer habe ihm helfen wollen – er aber diese Hilfe nicht annehmen können. «Ich möchte, dass ihr die Augen offen haltet. Es gibt Leute, denen ihr wichtig seid. Wir eingeschlossen, aber ihr könntet auch andere treffen», sagt er in die Runde.

Eine messbare Erfolgsquote können sie noch nicht vorweisen. Ein Erfolg sei, wenn ihre Jugendlichen nicht ins Gefängnis kommen – das sei bisher mit einigen Ausnahmen gelungen. Das Ziel sei, dass einige künftig selber zu Mentoren wie Beny und Terun werden. Und dass sie anderen helfen, aus der Spirale der Gewalt auszusteigen.

10vor10, 27.5.2022, 21.50 Uhr

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