In Deutschland fordert das Familienoberhaupt der Hohenzollern, Georg Friedrich Prinz von Preussen, Kunstschätze und Immobilien zurück. Der grösste Teil der ehemaligen Besitztümer der Kaiserdynastie liegt im Gebiet der früheren sowjetischen Besatzungszone und wurde nach 1945 konfisziert. Es steht die Frage im Zentrum, wie stark der letzte Kaiser Deutschlands Wilhelm II. und seine Hohenzollern dem Nazi-System Vorschub geleistet haben. Diese Frage sei kaum befriedigend zu beantworten, sagt der Historiker Leonhard Horowski.
SRF News: Wieso ist die Frage, wie die Hohenzollern zum Nazi-Regime standen, für die Entschädigungsfrage so wichtig?
Leonhard Horowski: Die Ansprüche der Hohenzollern beziehen sich auf ein Gesetz von 1994. Es sieht mögliche Entschädigungen für Enteignungen unter sowjetischer Besatzung vor. Allerdings erhalten Kläger die Besitztümer nur dann zurück, wenn sie «dem Nationalsozialismus nicht erheblich Vorschub geleistet» haben.
Wie beurteilen Sie als Historiker dieses Gesetz?
«Erheblicher Vorschub» ist eine äusserst vage Definition. Es kann nicht bedeuten, dass man so stark an der Machtübernahme der Nazis hat beteiligt sein müssen, dass sie es ohne diesen Vorschub nicht geschafft hätten. Denn dann käme niemand individuell infrage, auf den das angewendet werden könnte. Auf der anderen Seite kann es aber auch nicht bedeuten, dass man die Nazis bloss toleriert hat. Deshalb befinden sich jene Historiker, die für eine Expertise angefragt wurden, jetzt in einer sehr unbequemen Situation.
Die Historiker können keine klaren und eindeutigen Aussagen liefern.
Die Gutachter zuhanden des deutschen Bundestags kamen zu unterschiedlichen Einschätzungen. Muss jetzt die Politik über die Deutung der Geschichte entscheiden?
Wenn die Politik keine gütliche Einigung mit den Hohenzollern erzielt, werden wohl die Gerichte entscheiden müssen. Doch eigentlich sind beides nicht ideale Orte, um einen angemessenen Entscheid zu fällen. Bei juristischen Fragen sind klare und eindeutige Aussagen nötig. Doch solche können die Historiker nicht liefern.
Der Anspruch der Hohenzollern stösst in der deutschen Öffentlichkeit auf wenig Sympathie. Weshalb wird diese Diskussion derart emotional geführt?
Es gibt zahlreiche noch nicht bewältigte Probleme mit der Erinnerung an die deutsche Monarchie. Viele Deutsche empfinden die Forderung der Hohenzollern als Versuch des ehemaligen Herrscherhauses, noch einmal einen Vorteil aus seiner damaligen Stellung zu ziehen. Sie reagieren deshalb mit Wut auf den Vorstoss.
Für die Deutschen wäre es praktisch, wenn man in der ehemaligen Herrscherfamilie einen Universalschuldigen benennen könnte.
Es geht aber auch darum, dass sich hier ein Exorzismus für die Schuld am Zweiten Weltkrieg – und übrigens auch am Ersten Weltkrieg – anbietet. Das löst starke Emotionen aus und führt zu erstaunlichen Vereinfachungen – denn es wäre für die Deutschen doch sehr praktisch, wenn man in der ehemaligen Herrscherfamilie einen Universalschuldigen benennen könnte.
Ist das Ganze also auch eine Art Stellvertreter-Diskussion?
Ja. Denn auch die Seite der Hohenzollern versucht, eine für sie möglichst günstige Deutung ihrer Rolle in der deutschen Geschichte durchzusetzen. Das ist bislang aber von geringem Erfolg gekrönt und bloss ein Nebeneffekt ihres Versuchs, wenigstens einige Elemente ihres Familienvermögens zurückzubekommen.
Das Interview führte Irene Grüter.