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Rajoy will Katalonien entmachten
Aus Echo der Zeit vom 21.10.2017. Bild: Keystone
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Streit um Unabhängigkeit «Rajoy hat eigentlich das kleinere Übel gewählt»

Auf den Ministerpräsidenten Rajoy habe es Druck gegeben, viel härter zuzuschlagen, sagt Thomas Urban, Korrespondent der «Süddeutschen Zeitung».

SRF News: Die spanische Regierung hat sich entschlossen, die Regierungsgewalt in Katalonien zu übernehmen und die Separatisten zu entmachten. Wird die Rechnung für Ministerpräsident Mariano Rajoy aufgehen?

Thomas Urban: Das ist nun die grosse Frage. In diesem Moment hat Rajoy die stärkere Position, er hat alle staatlichen Institutionen und das Recht auf seiner Seite und er hat die Unterstützung der EU. Er hat vermutlich auch die stillschweigende Zustimmung der meisten Einwohner der Region Katalonien, aber wir wissen nicht, was die kleinere Gruppe der Separatisten machen wird. Es gibt genügend Gelegenheit, für gesellschaftliche Unruhe und für wirtschaftliche Instabilität zu sorgen, zum Beispiel durch einen Generalstreik.

Rajoy hatte die katalanische Unzufriedenheit lange nicht ernst genommen.

Der Artikel 155 wurde 1978 in die Verfassung geschrieben, kam bisher aber nie zur Anwendung. Rajoy sagte, seine Regierung habe diesen Schritt nicht gewollt, sehe sich aber dazu gezwungen. Teilen Sie diese Einschätzung?

Eigentlich war es die letzten Monate schon klar, dass es dazu kommen musste, da die Führung in Barcelona nicht von ihrer Linie abwich. Aber ich stimme vielen spanischen und ausländischen Beobachtern zu, die sagen: Dieses Problem hätte man vorher schon entschärfen können, und da liegt ein Grossteil der Verantwortung auch bei Rajoy.

Dieser hatte die katalanische Unzufriedenheit lange nicht ernst genommen. Er setzte darauf, dass sie mit der wirtschaftlichen Erholung geringer wird. Das war ein Irrtum. Denn die Unzufriedenheit ist nicht unbedingt an die Wirtschaftslage gekoppelt, sondern hat tiefere Ursachen. Etwa, dass sich Katalonien traditionell von Madrid nicht ernst genommen oder sogar feindlich behandelt fühlt. Da ist natürlich viel Mythologie und Leidensgeschichte dabei. Aber Psychologie ist bekanntlich auch ein politischer Faktor.

Die jetzt vorgeschlagenen Massnahmen bedeuten auf keinen Fall die Aussetzung der Autonomie und Selbstverwaltung Kataloniens, heisst es aus Madrid. Was bedeuten sie dann?

Die normalen Amtsgeschäfte aller Behörden werden weiterlaufen. Nur die Regierung selbst, also die Amtsleiter, die oberste Behördenebene, wird abgelöst. Es werden aber keine neuen Minister eingesetzt, die Beamten führen ihre Geschäfte normal weiter. Aber es steht natürlich alles unter noch grösserer Kontrolle von Madrid als vorher. Und natürlich wird man in Madrid schauen, ob es nicht wieder irgendwelche Initiativen gibt, die auf eine Abspaltung der Region abzielen.

Im Senat gab es etwa Vorschläge, dass man die Armee in Katalonien aufmarschieren lassen soll.

Damit der Verfassungsartikel 155 aktiviert werden kann, braucht es die Zustimmung des Senats, der zweiten Parlamentskammer. Rajoy und seine Partei haben dort eine Mehrheit. Ist die Abstimmung am nächsten Freitag Formsache?

Ja, das ist eine reine Formsache. Im Senat sitzen viele alte Parteifunktionäre und Amtsträger der konservativen Volkspartei von Rajoy, die eigentlich gerne viel eher und viel kräftiger zuschlagen würden. Da gab es etwa Vorschläge, dass man die Armee in Katalonien aufmarschieren lassen soll. Rajoy, das darf man nicht vergessen, ist ja kein nationalistischer Scharfmacher. Er ist eigentlich Vertreter des fast-liberalen, also des gemässigten, Flügels seiner Partei. Er hat mit seinem heutigen Entscheid eigentlich das kleinere Übel gewählt. Aus den eigenen Kreisen gab es Druck auf ihn, viel härter zuzuschlagen.

Wo stehen die anderen Parteien bei dieser Frage?

Die anderen Parteien haben sich sehr klar positioniert. Die Sozialisten unterstützen die Katalanen eigentlich, traditionell-historisch gesehen. Denn die katalanischen Unabhängigkeitskämpfer und die Sozialisten standen im Bürgerkrieg gemeinsam auf der Seite der Republik. Nun haben sie sich aber schweren Herzens durchgerungen, ihren politischen Gegner, Rajoy, zu unterstützen. Dies, weil sie natürlich auch an der Einheit des Königreichs Spanien festhalten wollen.

Das gleiche gilt für die liberale Bürgerpartei. Die hat sich eigentlich noch schärfer und noch härter positioniert als Rajoy. Die links-alternative Gruppierung Podemos hingegen sagt: Nein, wir müssen den Dialog suchen. Das Problem hätte man früher lösen müssen, der Artikel 155 werde kontraproduktiv sein. Er werde dort nur die Kräfte stärken, die von Madrid weg wollen.

Der katalanische Regierungschef Puigdemont wird sich am Abend dazu äussern. Was, wenn er als Reaktion nun selbst Neuwahlen ankündigt?

Das ist wahrscheinlich die eleganteste Möglichkeit für ihn, aus dieser Situation herauszukommen. Puigdemont selber, der ja auch kein Fanatiker ist, hat sich einfach verschätzt. Er hat geglaubt, dass er stärkere Unterstützung hat im eigenen Land, und er hat darauf gesetzt, dass wichtige Länder in der EU ihn unterstützen. Das war alles sehr naiv. Falls Puigdemont jetzt selber Neuwahlen auslösen würde, dann wird man in Madrid wohl sagen: Selbstverständlich, wir sind der gleichen Meinung.

Das Gespräch führte Samuel Wyss.

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