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Stromknatsch auf dem Balkan Warum unsere Backofenuhren sechs Minuten Verspätung hatten

Angebratene Lasagne, Verspätung im Pendleralltag – und schuld sind die buchstäblichen Power-Games zwischen Belgrad und Pristina: Weil Kosovo zu wenig Strom ins serbische Netz speist, und Serbien auf der anderen Seite die Frequenz nicht ausgleicht, verlieren Uhren, die mit dem Strom getaktet sind, in ganz Europa die Orientierung. Mit Auswirkungen auf den minutengenauen Alltag der Nordeuropäer.

Schwarzes Loch Nord-Kosovo

Der Zeitpunkt dieses Weckrufs aus Südosteuropa passt zur politischen Lage: Die Spannungen in der Region haben in den letzten Monaten wieder zugenommen. Insbesondere im Norden Kosovos nutzen Kräfte des Schattenstaats das Machtvakuum: Weder die kosovarische Regierung in Pristina hat das mehrheitlich serbisch besiedelte Gebiet unter Kontrolle, noch die internationalen Schutzmächte. Seit Jahren ein Dauerzustand.

Dafür arbeiten albanische und serbische Gangs Hand in Hand, handeln schwarz mit allen möglichen Gütern wie Benzin – und wohl auch Elektrizität. Ein buchstäblich schwarzes Loch. Der kürzlich ermordete Politiker Oliver Ivanović, der sich für eine Integration der Serben in den kosovarischen Staat ausgesprochen hatte, dürfte ein Opfer dieser kriminellen Gruppen geworden sein, die beste Beziehungen zu den Mächtigen in Pristina und Belgrad pflegen. Ein echtes Einvernehmen zwischen Albanern und Serben schadet dem Geschäft.

Gemeinsames Netz, gegensätzliche Interessen

Dieser Zustand dauert nun bereits 19 Jahre: Seit dem Ende des Kosovo-Kriegs im Juni 1999. Pristina ging konsequent den Weg der Unabhängigkeit und machte sich 2008 mit der Unterstützung des Westens selbständig, Belgrad dagegen versucht, den Staat Kosovo möglichst klein zu halten. Um an regionalen Konferenzen teilzunehmen, musste die kosovarische Regierung akzeptieren, dass auf offiziellen Dokumenten eine Fussnote festhält, die Bezeichnung «Kosovo» sei kein Präjudiz für den völkerrechtlichen Status des Gebiets.

Deshalb sind im internationalen Kontext längst nicht alle kosovarischen Institutionen anerkannt – auch nicht die Netzwerkgesellschaft für Elektrizität. Das führt zur absurden Situation, dass Serbien und Kosovo zwar miteinander Stromhandel betreiben, aber nicht in der Lage sind, die Stromversorgung und die Frequenzen stabil sicherzustellen. Noch immer kommt es in Kosovo zu Stromausfällen – trotz mehr als genug Energie aus den beiden Kohlenkraftwerken im Norden von Pristina.

Kosovo ist Europa

Gleichzeitig tut sich aber was in der ungelösten Status-Frage: Um der EU beitreten zu können, muss Serbien die Kosovo-Kröte schlucken und die Unabhängigkeit der ehemaligen Provinz anerkennen. Noch in diesem Jahr könnte es in Serbien ein Referendum geben. Belgrad ist dabei, möglichst günstige Bedingungen herauszuschlagen. Präsident Alkesandar Vučić spielt die Karte des Stabilitätsfaktors: Die EU und die USA sind auf Serbien als Partner in Südosteuropa angewiesen, um in der Region den Einfluss nicht ganz an die Türkei und an Russland zu verlieren.

Der Strom-Streit zeigt deutlich, dass die Stabilität um jeden Preis nicht wirklich funktioniert: Der Betondeckel der Brüsseler Normalisierungsdeals zwischen Belgrad und Pristina erhält sofort Risse, wenn eine der beiden Seiten nicht spurt.

Eine Lösung gibt es nicht mit Kabinettspolitik und Handschlägen starker Männer, sondern in einem echten, demokratischen Diskurs. So gesehen, symbolisieren sechs Minuten Verspätung nordeuropäischer Backofenuhren fast zwanzig Jahre erfolgloses Laborieren der EU auf dem Balkan. Die Erkenntnis: Kosovo ist Teil Europas – und kann die Zeit auf dem ganzen Kontinent aus dem Takt bringen.

Ein Essey: «Wir haben keine Züge zu verpassen»

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Idro Seferi stammt aus Peja (Kosovo) und arbeitet in Belgrad als Journalist für albanische Medien sowie für SRF:

Niemand wählt selbst, in einem schwarzen Loch zu leben oder Krieg zu haben. Niemand wählt selbst aus, nichts dagegen tun zu können. Europa war sechs Minuten zu spät. Das fällt auf in einem Land wie der Schweiz, wo die essentiellen Probleme schon seit Jahrhunderten gelöst sind.

Aber hier auf dem Balkan haben wir kaum mehr Züge, die wir verpassen könnten, denn die Züge fahren sowieso zu langsam. Wir haben kein System, dem wir vertrauen können, und wenn's jemand trotzdem schafft, dann steckt ein Kraftakt dahinter. Die anderen warten weiter – auf ein besseres System oder einfach etwas Strom, um wenigstens etwas Licht im Leben zu haben.

Nach dem Krieg 1999 gab es in Kosovo praktisch gar keinen Strom. Es war ein Chaos mit Tausenden ausländischen Missionaren, die versuchten, den Leuten zu helfen und ein Staatswesen aufzubauen. Die ganze Welt war in Kosovo. Es gab Projekte, Gespräche – und das Gefühl, die Freiheit könne etwas verändern und unsere Leben vorwärts bringen.

Jetzt lachen manche darüber, dass sich die Schweizer und die Deutschen sorgen wegen sechs Minuten Verspätung auf der Backofenuhr. Denn viele Ausländer, die unsere Länder kamen, um Karriere zu machen, arbeiteten auch am Aufbau eines besseren Energiesystems. Wir dachten: Jetzt wird es bei uns auch wie im Westen.

Doch wir sind es gewohnt, ohne Strom zu leben. Die Leute teilen das Leben ein in Zeiten mit und in Zeiten ohne Licht. Manchmal waren es nur zwei Stunden mit, manchmal sechs ohne, dann wieder zwei mit. Oder drei zu drei. Aber den Leuten war's egal. Ein Leben ohne Strom ist ein Leben, ohne die Verantwortung, selbst etwas zu entscheiden. Früher oder später gewöhnt man sich daran.

Gerade ist der Balkan wieder ins Bewusstsein der übrigen Europäer zurückgekehrt. Die Probleme sollen endlich gelöst werden. Hier glauben die einen, Russland müsse eine wichtigere Rolle spielen, andere setzen weiter auf die EU und die USA. Aber eigentlich sind auch Serben und Albaner noch immer unter Schock über die Konflikte nach dem Zusammenbruch des starken Tito-Staates Jugoslawien.

So haben sie sich beeilt, die hundert Jahre alten Ideen des Nationalismus aufzuholen – und sitzen jetzt in Brüssel, um ihre Beziehungen zu normalisieren. Gleichzeitig kommen die Europäer auf den Balkan und sagen: «Ihr habt eine europäische Perspektive.» Aber sie reisen wieder ab, ohne auf echten Veränderungen zu bestehen.

So reden alle über Kompromisse und schicken Geld unsere Länder. Aber es ändert sich nichts, und wieder haben die Leute hier kaum eine Wahl. Denn viele hier warten noch immer auf etwas Licht.

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