Die sudanesische Hauptstadt Khartum war einst voller Leben. Cafés waren überfüllt, Universitäten ein Magnet für Studierende aus ganz Afrika, Museen bewahrten Schätze, und das Eisenbahnnetz verband das Land mit der Welt – einst das grösste des Kontinents.
Wer heute durch die Strassen von Khartum geht, bewegt sich durch eine Geisterstadt: Die Bankgebäude stehen wie Gerippe, ausgeschlachtet, fensterlos, als hätte jemand der Stadt das Innere entrissen. Daneben verkohlte Hochhäuser, einst Büros und Geschäfte. Autowracks wie Knochen, hastig geschaufelte Gräber – markiert nur mit einer Scherbe, damit das Quartier weiss, wo ein Leben endete.
Im April 2023 brach im Herzen von Khartum der Krieg aus – entfesselt von zwei rivalisierenden Generälen: Abdel Fattah al-Burhan, Oberbefehlshaber der regulären Armee, und Mohamed Hamdan Dagalo, genannt Hemedti, Anführer der Rebellenallianz (Rapid Support Forces). Aus einem Machtkampf zweier Männer wurde ein blutiges Schlachtfeld im ganzen Land.
Viertel um Viertel wurde belagert, geplündert, zerstört. Die Infrastruktur brach zusammen: kein Wasser, kein Strom, keine Versorgung. Krankenhäuser wurden besetzt, Schulen zu Frontlinien, Museen zu Lagern. Millionen flohen, die Stadt leerte sich – und die einstige Lebensader des Sudan brach zusammen.
Nach fast zwei Jahren ununterbrochener Kämpfe gelang es der Armee im März 2025, die Rebellenallianz aus Khartum zu vertreiben. Seither kontrolliert sie allein die Hauptstadt, spricht von «Befreiung» und ruft die Menschen zur Rückkehr auf. Doch die vermeintliche Rückeroberung bedeutet nicht Frieden: Im Rest des Landes wird weitergekämpft, und auch in Khartum sind die Narben so tief, dass Normalität nur eine Parole bleibt.
Stadt der Toten
Die Armee spricht von Ordnung, doch Khartum bleibt gezeichnet. Weil es während der Gefechte fast unmöglich war, sich durch die Strassen zu bewegen, begruben Familien ihre Angehörigen dort, wo sie starben. Nun lässt die Armee viele dieser Gräber wieder öffnen – ein politisches Signal, um sich als Ordnungsmacht zu inszenieren. Gleichzeitig unterstützen Freiwillige und das Rote Kreuz die Arbeiten, weil es für die Gesundheit der Bewohner besser ist, wenn die Leichen nicht länger provisorisch verscharrt bleiben.
Am Rand steht eine Frau, in Schwarz gehüllt: Leila Tutu. Ihr Sohn Shaakir wurde hinter einer Schulmauer erschossen. «Er war ein ganz normaler Junge. Gesund, stark, voller Leben», sagt sie. Dann hebt sie den Blick, weg vom Grab, hin zum ganzen Land: «Oh Gott, was ist nur mit diesem Sudan geschehen? Möge Allah uns beschützen.»
Wie viele Tote der Krieg insgesamt gefordert hat, weiss niemand genau. Offiziell schweigen die Generäle, Schätzungen sprechen von weit über 200'000 Opfern. Doch die Dunkelziffer dürfte höher liegen: Viele gelten als vermisst, verschleppt oder sitzen in Haft, ohne dass ihre Familien wissen, ob sie noch leben. Die Gräber in Khartum sind damit nur ein Ausschnitt – Sinnbild eines Krieges, der das ganze Land zerreisst.
Faris Abusider steht vor dem Haus seiner Kindheit. Zwei Jahre lang war er im 800 Kilometer entfernten Port Sudan gestrandet, während Mutter und Schwester ins Ausland flohen. Jetzt, nach der Rückeroberung Khartums durch die Armee, wagt er die Heimkehr. Die Strasse vor ihm wirkt wie erstarrt: «Als ich ging, spielten hier noch Kinder und Nachbarn. Heute ist es tot», sagt Abusider.
Drinnen dasselbe Bild: Das Haus ist ausgeschlachtet. Erst verschwanden die Möbel, dann die Elektrogeräte, am Ende selbst Kabel, Fensterrahmen, Kleider. Nichts blieb, was noch irgendeinen Wert hatte. Im Krieg wurde Plündern zur Ökonomie – alles verwandelte sich in Ware. Soldaten, Rebellen, Banden oder Nachbarn nahmen, was sie tragen konnten. «Das war kein Zufall, sondern ein System», sagt Abusider.
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Bild 1 von 2. Im Schlafzimmer seiner Mutter findet Faris Abusider ein altes Fotoalbum. Auf vergilbten Seiten: ein Bild seiner Mutter als junge Frau. Bildquelle: SRF/Sarah Fluck.
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Bild 2 von 2. Im Haus von Faris Abusiders Familie liegen noch leere Patronenhülsen. Die Rebellenallianz hatte hier Scharfschützen stationiert – sie machten ganze Strassen unpassierbar, damit sich niemand mehr bewegen konnte. Bildquelle: SRF/Sarah Fluck.
Dabei war dieses Haus einmal ein Abbild des ganzen Landes. Hier lebten Familien aus den Provinzen Darfur, Dongola, aus dem benachbarten Südsudan. Kinder spielten auf dem Hof, Frauen teilten Essen, Männer halfen einander bei Reparaturen. «Wir waren Sudan in einem Gebäude», sagt er. Heute ist davon nichts mehr übrig. Zwischen Scherben hebt er ein altes Foto von sich als Baby auf. «Meine Mutter hat alles bewahrt. Jetzt liegt es im Dreck.»
Geplünderter Schatz
Was sich in Abusiders Haus im Kleinen zeigt, wiederholt sich wenige Kilometer weiter im grösseren Massstab – im einstigen Sudan National Museum, dem kulturellen Herz des Landes. Wer es betritt, sieht nicht mehr die stolzen Schätze der Jahrtausende, sondern die Spuren einer Besatzung. Im Eingangsbereich, wo einst Billette verkauft wurden, stehen rostige Feldbetten. Auf dem Boden liegen Scherben, an den Wänden hängen verblichene Poster. Durch zerschossene Fenster dringt Regen, der die Farben alter Fresken langsam auswäscht.
«Das ist unsere Geschichte – und sie wird gestohlen», sagt Archäologin Rihab Khider im zerstörten Sudan National Museum in Khartum.
Archäologin Rihab Khider erinnert sich an den Moment ihrer Rückkehr: «Ich habe fünf Stunden nur geweint.» Mehr als achtzig Prozent der Sammlung seien zerstört, sagt sie. Als die Rebellenallianz RSF im Juni 2023 das Nationalmuseum besetzten, brachen sie die Depots auf, luden Kisten auf LKWs und schafften ab, was sich verkaufen liess. Besonders die «Goldkammer» wurde vollständig ausgeräumt – Schmuck, königliche Insignien, Masken aus den Reichen von Napata und Meroe.
«Sie haben es nicht als Geschichte und Antike gesehen, sondern als Metall», sagt Archäologin Khider. Eingeschmolzen, verschoben, verkauft: über Schmuggelrouten in die Emirate, nach Ägypten oder in den Tschad. Gold, das einst Könige schmückte, fütterte nun die Kriegsökonomie. Aus den Kronen und Ketten der Kuschiten werden so plötzlich Barren, die Waffen, Treibstoff und Söldner finanzieren.
Das hier ist nicht nur sudanesisches Erbe – es ist Menschheitsgeschichte. Wenn etwas zerstört wird, geht ein Teil von uns allen verloren.
Direktor Jamal Al-Abdeer führt durch die zerstörten Räume. Aufgebrochene Stahlschränke, Scherben, Fäkalien in Büros. «Eine Antiquität behandeln wir wie ein Neugeborenes», sagt er leise. «Wir haben hier mehr Zeit verbracht als mit unseren Kindern.»
Dann zeigt er auf die Fresken aus der Kathedrale von Faras: Regenwasser frisst die Farben weg. «Ein Winter mit starkem Regen – und wir verlieren, was den Krieg überstanden hat», sagt Al-Abdeer. «Dieses Museum ist nicht nur Sudan», sagt Al-Abdeer, als er auf die Kolosse von Tabo blickt, deren Gesichter von Kugeln zerfurcht sind. «Es ist Menschheitsgeschichte. Wenn hier etwas zerstört wird, geht ein Teil von uns allen verloren.»
Der Geiger von Khartum
Am Nil-Ufer, unweit des zerstörten Museums, sitzt Lowai Abd Eiaziz Eljack auf einem wackeligen Plastikstuhl. Jeanshemd, Brille, die Geige im Schoss. Früher spielte er in Theatern, bei Hochzeiten, in Cafés – Musik als Herzschlag der Stadt. Jetzt sind die Bühnen geschlossen, viele Musiker geflohen. «Ich war immer fasziniert vom Klang der Umgebung», sagt er.
Ein Künstler darf nicht zerbrechen. Denn ein Künstler muss die Menschen aufrichten. Kunst kennt nur den Sieg.
Er erzählt leise aber bestimmt, wie ihn früher die Geräusche Khartums geprägt haben – «Windböen über dem Wasser, Stimmen, Mopeds, Marktgeschrei. Ich wollte, dass Musik das festhält», sagt er. Sein eigenes Musikzentrum hat der Krieg zertrümmert, Instrumente verbrannt, Aufnahmen verloren. Geblieben ist die Überzeugung: «Ein Künstler darf nicht zerbrechen.»
Lowai Abd Eiaziz streicht ein paar Töne an, ein Thema aus «Dobait al-Kaminia», einer alten gesungenen Versform der Nomaden. Früher half sie Kamelhirten, Distanzen zu tragen; heute hilft sie ihm, die Stille der zerstörten Stadt auszuhalten. In den dunkelsten Stunden im Krieg habe er dieses Lied gespielt, um sich selbst nicht zu verlieren.
Als Geiger Eiaziz hört, dass wir soeben aus dem Nationalmuseum kommen, leuchten seine Augen. «Dort haben wir gespielt», sagt er, «zwischen den Statuen. Dort habe ich Kraft geschöpft.» Er will hinauf – zurück an den Ort, der ihm vor dem Krieg Inspiration und Halt war.
Im Hof des Sudan National Museum stehen die Kolosse von Tabo, ihre Gesichter von Einschüssen gezeichnet. Rihab Khider und Direktor Jamal Mohamed Zain al-Abdeer treten aus einem Nebenraum, Staub liegt in der Luft. Lowai Abd Eiaziz hebt die Geige, «Dobait al-Kaminia» erklingt. Aufräumer halten inne, Archäologin Khider summt, dann auch Museumsdirektor Al-Abdeer. Für einen Moment wird die Ruine zur Bühne, die Musik legt sich wie eine Schutzhaut über die Wunden. «Kunst kennt nur den Sieg», sagt Eiaziz – nicht triumphierend, eher als Pflicht.