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Taiwan Zwischen Kriegsangst und Ablehnung

China droht seit Jahren, Taiwan militärisch unter seine Kontrolle zu bringen. Das prägt die Leute auf der Insel.

Doris kniet auf dem Boden und versucht die Blutung zu stoppen. Die Computeringenieurin setzt einen Druckverband und hantiert mit Gazen und Notfallbandagen. Eine Übung an Attrappen, für den Ernstfall.

Fast jeden Samstag werden hier im hellen Konferenzraum eines grauen Büroturms, mitten in der Millionenstadt Taipeh, die weissen Sitzungsstühle zur Wand geschoben. Feuerwehrleute stehen bereit und prüfen die Handgriffe der rund 60 freiwilligen Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer, auch jene von Doris.

mehrere Menschen knien am Boden und üben Wiederbelebungsmassnahmen
Legende: Der Zivilschutzkurs der Organisation Forward Alliance ist ausgebucht. SRF

Die quirlige Mittzwanzigerin sieht gute Gründe, ihren freien Samstag hier kniend auf dem Boden des Konferenzraums im Zivilschutzkurs zu verbringen. Die Situation mit China sei gefährlich und mache sie nervös, deshalb habe sie sich für den eintägigen Zivilschutzkurs entschieden.

Die Situation mit China ist ein wenig gefährlich. Ich bin ziemlich nervös deswegen.
Autor: Doris Teilnehmerin Zivilschutzkurs

Vorbereiten für den Kriegsfall

Peking unterstreicht seinen Anspruch auf die Insel regelmässig mit martialischen Drohungen. Das schürt Ängste in der Bevölkerung. Wie Doris wollen sich viele Taiwanerinnen und Taiwaner nicht einfach der Angst hingeben. Sie bereiten sich für den Worst Case vor.

Wie man sich bei einer militärischen Eskalation verhalten soll, kann man auf der Insel in etlichen Kursen und Vereinen lernen. Das Angebot ist breit gefächert und geht von eintägigen Zivilschutzkursen bis zu militärischen Studentenclubs, die den Häuserkampf trainieren – mit Softair-Waffen, da auf Taiwan strenge Waffengesetze gelten.

Üben mit dem Softair-Gewehr

Kampftaktiken üben zum Beispiel die zwölf Studenten des «YunTech»-Clubs an der «TransWorld»-Universität. Bis auf eine Frau sind es alles junge Männer.

Mehrere Menschen mit Camouflage-Uniformen und Gewehren.
Legende: Studentenclub bei militärischen Drillübungen. Mit Softair-Waffen. SRF

Die Ausrüstung mit Tarnanzug, schutzsicherer Weste, Helm und Gewehr bezahlt jeder selbst. Das kostet bis zu umgerechnet tausend Franken. Trainiert wird die Gruppe von einem ehemaligen Elitesoldaten.

Gemein sind den Militärclubs und Zivilschutzkursen, dass sie vor allem ein Signal aussenden wollen: Wir sind parat. Ein Signal über die Taiwanstrasse, welches die Volksrepublik China abschrecken soll. Die Hoffnung bleibt, dass das Gelernte nie angewendet werden muss.

Der unsichere Partner USA

Wirklich abschrecken dürfte China eher die Möglichkeit, dass bei einem Angriff auf Taiwan die USA eingreifen würden. Diese haben sich gesetzlich zur Verteidigung verpflichtet.

Allerdings ist nicht klar, wie die USA dieses Gesetz wirklich interpretieren. Schicken sie im Kriegsfall einfach Waffen oder eilen sie Taiwan zu Hilfe? Zwar hat US-Präsident Biden bereits viermal durchblicken lassen, man werde eingreifen. Sein Beamtenstab hat die Aussagen aber jeweils kurz darauf relativiert.

Trotz einer vom Volk gewählten Regierung, eigener Flagge und Nationalhymne anerkennt kaum ein Land Taiwan als unabhängigen Staat. Als eine Provinz Chinas, wie es Peking vorgibt, bezeichnet sich auf Taiwan selbst kaum jemand.

In der derzeitigen Bedrohungslage führt diese Zweideutigkeit zu noch mehr Verunsicherung auf Taiwan. Doch der Konflikt spitzt sich nicht nur im militärischen Sinne zu. Auch die Wirtschaft ist davon betroffen.

China nimmt Bauern ins Visier

Das merkt auch Wachsäpfel-Bauer Chen. Er konnte seine süssen Früchte von einem Tag auf den anderen nicht mehr nach China verkaufen. China blockierte die Importe. Offiziell wegen Parasitenbefall.

Wachsäpfel in einer Kiste.
Legende: China stoppt den Import von Wachsäpfel aus Taiwan. SRF

Chen brach ein grosser und lukrativer Markt für seine süssen Früchte weg. Ein bitteres Erlebnis, auf das er radikal reagierte.

400 Bäume hat er geschnitten und gezweit. Die neuen Fruchtsorten sind nicht mehr für den Export gedacht. Insgeheim hofft der Bauer aber, dass China irgendwann seinen Markt wieder öffnet. Schliesslich hat er dort gutes Geld verdient.

Junger Mann macht eine Schnitt-Geste mit der Hand an einem Baum.
Legende: Die Bauernfamilie schnitt nach dem chinesischen Importverbot ihre Bäume. SRF

Doch danach sieht es derzeit nicht aus. China verhinderte nach und nach mehr Agrarimporte aus Taiwan. Neben Bauer Chens Wachsäpfel sind auch taiwanesische Ananas, Süssäpfel und Zackenbarsche von den Importverboten betroffen.

Frage der Identität

Bauer Chen sieht die Landwirte als Opfer chinesischer Machtpolitik. Das schmerzt ihn besonders, bezeichnet er sich doch selbst als Chinese. Sein Vater ist als Soldat auf die Insel gekommen.

1949 verlor die nationalistische Regierung der Republik China den Bürgerkrieg gegen die Kommunisten und zog sich auf die Insel Taiwan zurück. Neben unzähligen Kulturgütern brachte sie rund 2 Millionen Soldaten und Zivilisten mit. Einer davon war Chens Vater.

Es war nicht die erste Migrationswelle aus China. Bereits im 17. Jahrhundert eroberte das damalige chinesische Kaiserreich Taiwan. Mit den Eroberern kamen der Buddhismus, Taoismus, neue Sprachen und die chinesischen Schriftzeichen nach Formosa – so nannten die portugiesischen Kolonialisten Taiwan.

Die Geschichte genauso wie die Gegenwart, also die Drohungen der Volksrepublik China auf dem Festland, prägen die Identität auf der Insel Taiwan.

So zeigen Umfragen, dass sich heute die meisten auf Taiwan als Taiwanerinnen und Taiwaner bezeichnen. Viele als Taiwaner und Chinesen. Als ausschliesslich chinesisch sieht sich nur noch eine sehr kleine Minderheit.

Gefangen in der Ambivalenz

Zwar haben viele auf der Insel ein eigenes Verständnis, was es heisst, Taiwaner oder Taiwanerin zu sein. Schwieriger wird es aber bei der Frage, was Taiwan ist. Ein Land oder eine Provinz? Es ist eine Frage, die sich nicht mit einem Wort beantworten lässt.

Zwei Bilder, davor eine grosse, schwarze Box.
Legende: Sonderausstellung im Kunstmuseum in Taipeh mit dem Titel: Kriegsvorbereitung. SRF

Taiwan ist in dieser Ambivalenz gefangen. Die Volksrepublik China möchte Klarheit schaffen. Auf der Insel gehen die Leute davon aus, dass Klarheit Krieg bedeutet.

Diese Bedrohung beeinflusst das Leben der Menschen. Ihre Pläne, ihre politische Haltung, ja sogar ihre Musik. Oft bleibt das unterschwellig. Manchmal zeigt es sich plakativ. Wie etwa im Kunstmuseum in Taipeh. Die Sonderausstellung dort trägt den Titel: Kriegsvorbereitung.

International, 24.06.23, 09:08 Uhr

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