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Tausende zivile Opfer Der schmutzige Drohnenkrieg der USA

Die USA sprachen einst von Angriffen mit chirurgischer Präzision. Eine umfangreiche Recherche zeichnet ein anderes Bild.

Der frühere US-Präsident Barack Obama sprach vom «präzisesten Luftkrieg der Geschichte» und meinte damit Luftangriffe in Afghanistan, dem Irak oder Syrien – die Angriffe des US-Militärs mit zum grössten Teil ferngesteuerten Drohnen.  Ja, die USA versprachen den fast sauberen Krieg – mit nur einem Mindestmass an zivilen Opfern.

Eine umfangreiche Recherche der Zeitung «New York Times» zeichnet nun ein weniger sauberes Bild: Bei diesen vermeintlich chirurgisch präzisen Luftangriffen seien viel mehr Menschen umgekommen, als das Militär eingestehe, darunter viele Zivilistinnen und Zivilisten.

Der Bericht der New York Times (englisch)

2016 greifen die USA Thokar, ein Dorf in Nord-Syrien, aus der Luft an. Das US-Militär hat Kämpfer des sogenannten Islamischen Staats IS im Visier. Später geben die USA zu: Unter den Toten seien auch sieben bis 24 Zivilisten. Die New York Times kommt auf eine ganz andere Zahl: In den getroffenen Häusern hätten ganze Familien Schutz gesucht, mehr als 120 Zivilistinnen und Zivilisten seien umgekommen. Und der Fall ist nur einer von vielen.

Angehende Drohnenpiloten bei der Ausbildung in einem Militärstützpunkt im Bundesstaat New Mexico.
Legende: Viele der Drohnenangriffe im Nahen und Mittleren Osten werden von Militärangehörigen in den USA per Fernsteuerung geflogen. Im Bild: Angehende Drohnenpiloten bei der Ausbildung in einem Militärstützpunkt im Bundesstaat New Mexico. Keystone

Die New York Times hat erwirkt, dass das US-Verteidigungsministerium mehr als 1300 Dokumente freigeben musste. Sie dokumentieren den Luftkrieg seit 2014 und offenbaren laut New York Times ein Muster der Fahrlässigkeit: ungenaue, übereilte Luftschläge – aufgrund von unzureichenden Informationen und unzureichender Aufklärung. Menschen, die nach einem ersten Luftschlag heraneilten, seien etwa automatisch als IS-Kämpfer identifiziert worden.

«Wie Terroranschläge aus heiterem Himmel»

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Die Luftwaffen der USA sind lange nicht so präzise, wie sie gerne dargestellt werden. Laut Nahost-Korrespondentin Susanne Brunner überrascht diese Erkenntnis dort, wo die Waffen zum Einsatz kommen, niemanden. «Wenn ich in syrischen Flüchtlingslagern oder auch im Irak unterwegs bin, erzählen mir die Menschen immer wieder von den vielen zivilen Opfern, die diese Luftangriffe fordern.» In arabischen Medien – vor allem auch auf den sozialen Medien – gebe es fast täglich Meldungen über zivile Opfer.

Die Korrespondentin weiss auch um die psychologischen Spuren, die die vermeintlich saubere Kriegführung hinterlässt. «Am meisten Angst macht den Menschen, dass die Angriffe wie Terroranschläge aus heiterem Himmel kommen.» Gerade in Konfliktregionen, in denen sich die Menschen vor Gefechten in Sicherheit zu bringen versuchten, können ohne jede Ankündigung Bomben auf sie niederregnen. «Plötzlich werden sie getroffen, oder das Gebäude, in dem sie Zuflucht suchen. Manchmal werden auch Helfer getroffen, die den Verwundeten zu Hilfe eilen.» Unter die Angst mischt sich auch Wut. «Diese Wut im Nahen Osten über die sogenannten ‹Präzisionsbomben› der USA ist gross. Nicht nur der Opfer wegen, sondern auch weil die USA dafür nie jemanden zur Verantwortung ziehen.»

Die New York Times hält in ihrem Bericht fest, dass die USA Luftangriffe mit zivilen Opfern kaum je untersuche – und sich lapidar für die Kollateralschäden entschuldige, die nun einmal unvermeidlich seien. «Aber diese Kollateralschäden sind Familien, die Angehörige verloren haben. Es sind Menschen, die schwere Verletzungen und lebenslange Behinderungen davontragen – und es gibt niemanden, der ihnen hilft oder eine Spitalrechnung bezahlt.» Wenn sich die Betroffenen etwas von den USA wünschten, schliesst Brunner, dann das: «Gerechtigkeit. Und die Anerkennung, dass die Menschen in dieser Region nicht weniger wert sind als andere – und die USA sie nicht einfach töten können wie Figuren in einem Videospiel. Mit ebenso wenig Konsequenzen.»

In den Dokumenten fänden sich kaum Hinweise darauf, dass das Militär versucht hätte, aus den Fehlern zu lernen, schreibt die New York Times. Und die Zeitung tat auch, was das US-Militär fast nie gemacht hat: Sie besuchte gegen 100 Orte, wo US-Luftschläge stattgefunden hatten und sprach mit Überlebenden.

Sie kommt zum Schluss: Tausende Zivilistinnen und Zivilisten kamen bei US-Luftschlägen in Irak, Afghanistan und Syrien ums Leben – darunter viele Kinder. Die Opferzahl liege signifikant höher als die rund 1600 toten Zivilisten, die das US-Militär angibt.

Dieser Luftkrieg, vielfach geführt mit Drohnen, nahm ab 2014 unter Präsident Obama richtig an Fahrt auf. Allein in den folgenden fünf Jahren flogen die USA mehr als 50'000 Luftangriffe. Und auch, wenn es aus dem Verteidigungsministerium hiess, man versuche alles, um zivile Opfer zu vermeiden: Die Recherchen der New York Times werfen ein neues Licht auf den vermeintlich präzisen Luftkrieg der USA.

Echo der Zeit, 20.12.2021, 18 Uhr

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