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Tauziehen um Kremlkritiker In Russland stehen Menschenleben an zweiter Stelle

Auf den ersten Blick sind es gute Neuigkeiten: Alexej Nawalny soll nun doch aus einem sibirischen Spital nach Deutschland geflogen werden, um in der Berliner Charité wegen einer mutmasslichen Vergiftung behandelt zu werden. Aufatmen können die Unterstützer des bekanntesten russischen Oppositionellen deswegen noch lange nicht. Denn die Ausreise wurde ebenso willkürlich plötzlich möglich, wie sie zuvor willkürlich während einem ganzen Tag unmöglich schien.

Damit zeigt sich einmal mehr, dass in Russland weder Fakten noch Gesetze eine Rolle spielen, sondern einzig die Abwägung im Kreml den Ausschlag gibt. Das macht das Leben aller Menschen, besonders aller Oppositionellen, zu einem Roulettespiel, in welchem selbst Spitäler keinen Schutz bieten.

Mehr Sicherheitskräfte als Ärzte

Dass nach einer Hospitalisierung wegen mutmasslicher Vergiftung auch Polizei und Untersuchungsbehörden im Spital erscheinen, dürfte an und für sich nicht erstaunen. Wenn allerdings Beamte ohne Abzeichen sich an den Bürotisch des leitenden Arztes setzen, während er abwesend ist, auf den Gängen Polizisten patrouillieren und die Frau des Hospitalisierten davon abhalten zu ihm zu gelangen, dann hört sich dies nach Szenen aus einem Mafiosofilm an.

Doch im sibirischen Omsk hat sich dies im Verlauf des heutigen Tages in Realität so zugetragen. Dass mehrere verantwortliche Ärzte sich gegenüber dem Sicherheitsapparat loyaler zeigten, als gegenüber den Angehörigen ihres Patienten, lässt vermuten, dass sie entweder erpressbar sind oder selbst mit dem Machtapparat eng verbunden. In beiden Fällen eine beunruhigende Nachricht für alle, deren Leben vom russischen Gesundheitssystem abhängt.

Wertvolle Zeit vergeht

Durch ihre widersprüchlichen Äusserungen gegenüber der Presse haben die Omsker Ärzte den Verdacht einer mutmasslichen Vergiftung von Alexej Nawalny eher gestärkt als entkräftet. Zum aktuellen Zeitpunkt sind noch immer keine Details einer Diagnose bekannt.

Mit jeder Stunde, die Nawalny im sibirischen Spital verbringt, scheint es unwahrscheinlicher, dass ein möglicher Giftstoff nachgewiesen werden könnte. Noch bevor Nawalnys Leben gerettet ist, scheint absehbar, dass die Ursache für seine Hospitalisierung nie geklärt werden dürfte.

Druck entscheidet über Leben und Tod

Dass die Ausreise überraschend möglich wurde scheint dem politischen Druck zu verdanken, der von mehreren Seiten auf Putin ausgeübt wurde. Vom französischen Präsidenten, der deutschen Bundeskanzlerin über den Präsidenten des Europäischen Rates sprachen alle Nawalny Unterstützung zu.

Im staatlich kontrollierten Fernsehen Russlands wurde das Thema in den gestrigen Abendnachrichten währenddessen ausgeschwiegen. Ein klares Zeichen dafür, dass der Kreml kein Interesse hat, dass dem Fall mehr Aufmerksamkeit zuteil wird. Potenzielle Motive hätten viele, da sich der Oppositionspolitiker Nawalny in den vergangenen Jahren mächtige Feinde gemacht hat.

Unabhängig davon, ob der Kreml die Finger im Spiel hatte, trägt Russlands Präsident Verantwortung. Es ist das von Putin geschaffene politische System, in welchem die Rettung eines Menschenlebens erst an zweiter Stelle steht.

Luzia Tschirky

Russland-Korrespondentin

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Luzia Tschirky ist SRF-Korrespondentin für die Region Russland und die ehemalige UdSSR.

Tageschau vom 21. August 2020, 19:30 Uhr

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