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Terrororganisation ETA «Transterrados»: die Vertriebenen aus dem Baskenland

Vor fünf Jahren hat sich die baskische Untergrundorganisation ETA aufgelöst. Ihr Terror wirkt bis heute nach.

Mitte April 2018, vor genau fünf Jahren, verfasste die verbleibende Führung der ETA einen Brief: Sämtliche Strukturen seien aufgelöst, hiess es darin – die ETA habe aufgehört zu existieren.

Dieser Brief folgte auf Jahrzehnte der Gewalt. Erschiessungen, Entführungen, Autobomben: Mit brutalen Mitteln hatte die ETA für ein unabhängiges, sozialistisches Baskenland gekämpft. Es heisst oft, dass sie kein einziges ihrer Ziele erreicht habe. Doch ganz so einfach ist es nicht. Von einem eigenen Staat war die ETA bei ihrem Ende zwar so weit entfernt wie eh und je. Doch ohne sie wäre die baskische Gesellschaft heute eine andere.

Kritische Stimmen zum Schweigen gebracht

Antonio Rivera ist Historiker an der Universität von Vitoria, der Hauptstadt des Baskenlandes. Nationalismus und politische Gewalt gehören zu seinen Spezialgebieten. Er sagt: Der grösste Erfolg der ETA bestehe darin, dass es ihr gelungen sei, jene Menschen zu vertreiben, die sich ihr entgegensetzten, sie kritisierten – oder sie zum Schweigen zu bringen. Kritische Journalistinnen, unliebsame Professoren, Unternehmer oder Schriftstellerinnen seien über Jahre massiv von der ETA bedroht worden. Manche sahen keinen anderen Ausweg, als ihre Heimat zu verlassen.

«Transterrados» nennt Rivera diese Menschen. Wie viele es waren, lasse sich unmöglich beziffern. Es gibt Schätzungen, die in die Zehntausende, sogar Hunderttausende gehen, doch die hält Rivera für unseriös. Denn: Wo zieht man die Grenze? Gelten nur jene Vertriebenen als «Transterrados», die knapp einem Attentat entgangen waren? Die Angehörigen von Ermordeten? Oder auch jemand, der es nicht länger ertrug, in einer Gesellschaft zu leben, in der man immer zuerst über die eigene Schulter schaute, um zu sehen, wer zuhörte, bevor man sprach?

Mann mit Sakko vor Bücherwand
Legende: Experte für Nationalismus und politische Gewalt: der Historiker Antonio Rivera in seinem Büro auf dem Campus der Universität von Vitoria. ZVG

Dazu komme: Jene, die sich entschieden zu gehen, gingen leise. Viele empfanden ihre Flucht, ihre Vertreibung als persönliche Niederlage.

Eine von vielen Geschichten

Antonio Rivera hat letztes Jahr ein Buch zu den «Transterrados» veröffentlicht, das erste seiner Art. Eine der Geschichten, die darin vorkommen, ist jene von Aurora Intxausti. Intxausti ist Journalistin und lebt heute in Madrid. Geboren und aufgewachsen ist sie in der baskischen Küstenstadt San Sebastián, wo sie für die Tageszeitung «El País» gearbeitet hat – bis sie ins Visier der ETA geriet.

Eine Person putzt ein Graffiti mit der Aufschrift «Gora ETA» weg.
Legende: «Gora ETA» (Deutsch: «Ein Hoch auf die ETA») war ein viel verwendeter Slogan der Terrororganisation. Die Schlange und die Axt waren Symbole für die List und die Gewalt der ETA. EPA /JESUS DIGES

Die Bedrohung begann mit einer Schmiererei, die sich gegen sie richtete. Die Beleidigung stand in grossen Lettern auf einer Hauswand. «Ich versuchte, dem keine grosse Beachtung zu schenken, normal meinem Leben nachzugehen», erzählt Intxausti. Bis zum Morgen des 10. November 2000.

Die Bombe an der Haustür

Der Tag habe ganz gewöhnlich begonnen, erzählt Aurora Intxausti. So wie der Alltag einer Familie mit einem kleinen Kind nun mal aussehe. Ihr Sohn Iñigo war damals 1.5 Jahre alt. Sie sei gerade dabei gewesen, ihn anzuziehen, um ihn in die Krippe zu bringen. Ihr Mann wollte etwas früher aus dem Haus und hatte sich schon verabschiedet – da stand er plötzlich wieder vor ihr: «Aurora, erschrick dich nicht», habe er gesagt. Als Intxausti selbst zur Haustür ging, sah sie eine Bombe – direkt beim Eingang platziert.

Ich wollte nicht, dass mein Kind mich weinen sieht.
Autor: Aurora Intxausti Journalistin

«Zuerst bist du überrascht», sagt Aurora Intxausti, «und dann willst du dein Kind schützen.» Ihr Mann rief die Polizei. Dann zogen sie sich zu dritt ins hinterste Zimmer der Wohnung zurück, möglichst weit von der Bombe entfernt. Anfangs habe sie geweint. «Doch ich sagte mir: Wenn das die letzten Momente unseres Lebens sind, will ich nicht, dass mein Kind mich weinen sieht.» Und so hätten sie sich auf den Boden gesetzt, ein paar Legosteine genommen und miteinander gespielt. Bis die Polizei kam und es schaffte, die Bombe zu entschärfen.

Aurora Intxausti
Legende: Heute arbeitet die Journalistin Aurora Intxausti noch immer für die Zeitung El País. «Nur schreibe ich jetzt über Kulturthemen statt über baskische Friedhöfe», sagt sie. SRF/Melanie Pfändler

Aurora Intxausti und ihre Familie verliessen das Baskenland noch am Abend desselben Tages. Sie liessen ihr ganzes Leben hinter sich. 22 Jahre sind seither vergangen.

Noch heute ist es Intxausti unmöglich, darüber zu sprechen, ohne dass ihr die Tränen kommen. «Am meisten schmerzt es mich, wenn ich meinen Sohn anschaue», sagt sie. «Er ist ein so grossartiger junger Mann, witzig und intelligent. Er studiert in Mailand, will Ingenieur werden, hat wunderbare Freunde. All das hätte er verpasst. Und wofür?»

Leben mit der Gewalt

Auch Antonio Rivera, der Historiker aus Vitoria, hat den Terror der ETA nicht nur erforscht: Wie Aurora Intxausti hat er erfahren, was es heisst, bedroht zu werden. Die ETA begann Ende der 60er-Jahre zu töten. Erst 2011 legte sie ihre Waffen nieder. In dieser Zeit waren viele Menschen im Baskenland auf Personenschutz angewiesen.

Die Geschichte der ETA

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Die ETA – kurz für «Euskadi ta Askatasuna» (Deutsch: «Baskenland und Freiheit») – wurde 1959 während der Diktatur von Francisco Franco gegründet. Die ersten Jahre bediente sie sich friedlicher Mittel, doch 1968 begann die ETA zu töten. Insgesamt wurden 853 Menschen von ihr ermordet und rund 2600 verletzt. Im Kampf gegen die ETA beging der spanische Staat massive Menschenrechtsverletzungen: Während vier Jahren – von 1983 bis 1987 – töteten Todesschwadronen insgesamt 27 Personen, ohne jegliche rechtliche Grundlage. Viele von ihnen hatten nicht einmal eine Verbindung zur ETA. Zudem haben Forscherinnen und Forscher der Universität von San Sebastián mehr als 4600 Fälle von Folter dokumentiert, die vor allem von Angehörigen der Polizei verübt wurden.

2011 hat die ETA entschieden, ihre Waffen niederzulegen. In einem auf den 16. April 2018 datierten Brief gab sie bekannt, dass sämtliche Strukturen aufgelöst worden seien und sie nicht länger existiere.

«Ich selbst war sieben, acht Jahre lang mit Leibwächtern unterwegs», erzählt Rivera. Es sei schwer, sich vorzustellen, wie einschneidend dies sei: «Du kannst nicht einmal alleine den Müll hinausbringen. Oder du kannst nicht spontan entscheiden, auf der Strasse nach rechts statt nach links abzubiegen, einfach, weil du gerade Lust darauf hast.»

Der Terror wirkt bis heute nach

Der ETA sei es gelungen, über Jahrzehnte eine Kultur der Angst zu etablieren. Und durch die Drohungen und Vertreibungen haben sie direkten Einfluss genommen auf die Demografie, die Zusammensetzung der baskischen Bevölkerung: Wer ging an die Wahlurnen? Wer unterrichtete an den Schulen, den Universitäten? Wer arbeitete in der öffentlichen Verwaltung?

Seit die ETA ihre Waffen niedergelegt habe, habe sich vieles verändert, sagt Antonio Rivera. Auch manche «Transterrados» seien mittlerweile zurückgekehrt. Aber zumindest ein Teil dieser Effekte wirke bis heute nach. «Der Terror, die Gewalt, die politischen Spannungen sind wie Zahnschmerzen», so Rivera. «Ziehst du den Zahn, sind sie weg. Aber an den Schmerz erinnerst du dich ein Leben lang.»

Echo der Zeit, 08.04.2023, 18:00 Uhr

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