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Tessins historische Bedeutung Lugano ist ein Ort der diplomatischen Geschichtsschreibung

Im Tessin trifft sich im Juli die Ukraine-Wiederaufbaukonferenz. Es ist ein historisch wichtiger Veranstaltungsort, der sich bereits im letzten Jahrhundert einen Namen im Sinne des Weltfriedens gemacht hat.

Der wohl bedeutendste Anlass für die Stadt Lugano liegt knapp 100 Jahre zurück. 1928 hat der Völkerbund in Lugano getagt. Die Stadtchronik spricht von einem Giga-Anlass. 14 internationale Delegationen waren vor Ort mit rund 250 Personen. Beobachtet wurden sie von 150 Journalisten. Dass die Sitzung in Lugano stattfand, hatte zwei Gründe.

Konferenzerfolg hängt von Selenski ab

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Anfang Juli findet im Lugano die Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine statt. Wie gross und wie wichtig dieser Anlass wird, hängt vor allem davon ab, wer an der Konferenz teilnimmt. Alles steht und fällt mit der Zusage des ukrainischen Präsidenten Selenski.

Schaltet dieser sich nur per Video nach Lugano ein, wird der Aufmarsch der von Bundespräsident Cassis geladenen Premiers vermutlich eher bescheiden ausfallen. Viele Fragen sind noch offen. Fest steht, Lugano hat sich als Veranstaltungsort für internationale Konferenzen einen Namen in der jüngsten diplomatischen Geschichtsschreibung gemacht.

Erstens litt der deutsche Reichskanzler Gustav Stresemann an Rheuma und bevorzugte einen wärmeren Tagungsort als den Sitz des Völkerbunds in Genf. Zweitens war auch damals ein Tessiner im Bundesrat zuständig für die Aussenpolitik – Giuseppe Motta nämlich. Er etablierte erfolgreich Lugano als Veranstaltungsort für die Völkerbundskonferenz.

Bundesrat Motta von historischer Wichtigkeit

Dazu der Historiker Marino Viganò:  «Giuseppe Motta war auch im Ausland ein sehr einflussreicher Politiker der CVP und somit ein Konservativer. Damit war er für viele der Inbegriff von Stabilität.» Drei Jahre früher, im Jahr 1925, habe Motta ja bereits Locarno als Verhandlungsort etabliert.

Nämlich für die völkerrechtlichen Vereinbarungen zwischen den Kriegsparteien des Ersten Weltkriegs. Viganò: «Im Abstand von nur drei Jahren fanden im Tessin zwei wichtige Konferenzen statt, um Europa stabiler zu machen.» Lugano wurde hierfür bis in die letzte Ecke herausgeputzt.

Wucherpreise wären schlecht fürs Image gewesen

In der Stadtchronik «Storia di Lugano» heisst es, dass alle Glühbirnen kontrolliert wurden, damit am Galaabend auch wirklich alle Lampen die Stadt erleuchten konnten. Zudem wies der Stadtpräsident das Gewerbe an, möglichst moderate Preise zu verlangen. Lugano sollte nicht wegen Wucher in Verruf kommen. 

Darauf angesprochen, muss der aktuelle Stadtpräsident Michele Foletti schmunzeln:  «Ich musste eben ans WEF denken, das die Preise in Davos jeweils in die Höhe schiessen lässt. Ich denke nicht, dass wir dieses Problem in Lugano für die kommende Konferenz haben werden. Die Preise sind schon hoch, wir haben Hochsaison.»

Die derzeit entscheidende Frage sei, ob es noch freie Zimmer gibt. Kein Thema war dies wohl im Frühjahr 1945. Das internationale Treffen, das im heutigen Grand Café Porto stattfand, ging nämlich leise über die Bühne. Es handelte sich dabei um ein Geheimdienst-Treffen, das später bekannt geworden ist unter dem Titel «Operation Sunrise».   

Nazis trafen sich mit dem US-Geheimdienst

Dazu der Historiker Marino Viganò: «Vertreter der deutschen Waffen-SS schafften es, sich heimlich mit Vertretern des US-Geheimdienstes zu treffen. Sie wollten mit diesem Treffen erreichen, dass die deutschen Truppen in Norditalien kapitulierten. Lugano war wegen seiner Nähe zu Italien der Austragungsort dieses Treffens, sagt Historiker Viganò. 

Gut zu sehen ist Letzteres beim dritten wichtigen Treffen in der jüngeren Geschichte der Stadt. 1990 fand dort das Forum «Lettland und Europa» statt. Am Forum wurden Perspektiven entwickelt, wie sich das Land nach dem Zerfall der Sowjetunion entwickeln konnte.

Anlass für dieses Forum in Lugano war der 125. Geburtstag des lettischen Nationaldichters Rainis, der am Luganersee politisches Asyl gefunden hatte. Jetzt, rund 30 Jahre später, ist es mit Bundespräsident Cassis wieder ein Tessiner, der die Ukraine-Konferenz in seine Heimatstadt holt. 

Echo der Zeit, 10.06.2022, 18:00 Uhr

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