Jedes Jahr finden sich in der Silvesternacht Tausende Menschen vor dem Parlament in Westminster ein, wenn Big Ben um Mitternacht das neue Jahr einläutet. Seit genau hundert Jahren können die Britinnen und Briten dem Klang der 14 Tonnen schweren Glocke auch zu Hause in der warmen Stube lauschen.
Dies haben sie dem BBC-Tontechniker Agnus Dryland zu verdanken. 1923 kletterte dieser am Silvesterabend mit seinem Mikrofon auf ein Dach der umliegenden Häuser. Der akrobatische Akt machte es möglich, die Glockenschläge erstmals live am Radio im ganzen Königreich zu hören.
Mittlerweile ist ein Mikrofon fest im 96 Meter hohen Turm montiert. Die Tonabfolge des Big Ben und der vier Nebenglocken gehört seither zum akustischen Inventar der Nation.
Big Ben läutet nicht nur das Neue Jahr ein, sondern ebenso jeden Abend live die BBC-Nachrichten. Je nach Wetterlage leise umfächelt vom Gurren der Tauben im Turm.
Symbol für Freiheit und Hoffnung
Die ikonischen Glockenschläge sind wohl das bekannteste Zeitzeichen der Welt. Weniger bekannt ist, dass die Tonabfolge gis, fis, e und b aus dem Oratorium «Messias» von Georg Friedrich Händel stammt. «Diese ganze Stunde lang, oh Herr, sei mein Führer, dass kein Fuss ausgleite», lautet der demütige Text der Arie passend zum Glockenschlag.
Doch als die BBC die gewichtigen Glockenschläge über Kurzwelle selbst in die ganze Welt verbreitete, wurde Big Ben zum Symbol britischer Macht in den Kolonien und anderswo. Im Zweiten Weltkrieg legte die ganze Nation jeden Abend eine Schweigeminute ein, wenn Big Ben neun schlug. Und für die Menschen, die im nazibesetzten Europa im Geheimen den «BBC World Service» hörten, wurde das Zeitzeichen aus London zum Symbol der Freiheit und Hoffnung.
Der Zahn der Zeit
Nicht einmal ein Bombeneinschlag im Turmdach während des Zweiten Weltkriegs konnte Big Ben etwas anhaben. Dagegen Wind und Wetter. 2017 verstummte Big Ben temporär. Risse, Lecks und Rost hatten dem Turm arg zugesetzt. Sogar die grossen Uhrzeiger waren morsch und drohten herunterzufallen.
Der Turm wurde saniert und das elf Tonnen schwere Uhrwerk zerlegt. Während sechs Jahren wurden die BBC-Abendnachrichten mit einem Glockenschlag ab Konserve eingeläutet. Zu hören war die grosse Glocke in dieser Zeit nur bei aussergewöhnlichen Ereignissen: an Silvester und am Tag der Beisetzung der Queen.
Seit gut einem Monat ist die ikonische Tonfolge in Westminster wieder zu hören. Gewissermassen die Tonspur der Nation. Eine akustische Verbindung zur Vergangenheit oder schlicht ein vertrauter Klang mitten im Lärm des Alltags, damit wir nicht ausgleiten beim Gang durch die Zeit.