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Treffen mit Martin Selmayr «Verhandeln auch bis fünf nach zwölf – das ist die EU»

Martin Selmayr ist Generalsekretär der EU-Kommission. Der frühere deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble soll über ihn einst den Witz erzählt haben: «Was ist der Unterschied zwischen Selmayr und Gott? Antwort: Gott denkt nicht, Selmayr zu sein.» Im Gespräch mit unserem EU-Korrespondenten erklärt Brüssels mächtigster Bürokrat, wie er die Krisenjahre der EU erlebt hat – und was er zur «Affäre Selmayr» sagt.

Martin Selmayr

Generalsekretär der EU-Kommission

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Der 48-Jährige leitet die Brüsseler Verwaltung mit 33’000 Mitarbeitern, er hat an der Seite von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker alle Krisen der letzten Jahre miterlebt und gilt als begnadeter Strippenzieher und Machtmensch.

SRF News: Griechenlandkrise, Flüchtlingskrise, Brexit: Welche der grossen Krisen hat Sie am meisten beschäftigt?

Martin Selmayr: Die Griechenlandkrise, weil diese die EU vor die Existenzfrage gestellt hat. Wenn wir es nicht geschafft hätten, den Grexit zu verhindern, würde die EU in dieser Form nicht mehr existieren. Es ging um die Existenz des europäischen Projektes. Und ohne Präsident Jean-Claude Juncker wäre Griechenland nicht mehr im Euro. Ich werde das mein ganzes Leben wiederholen – weil es die Wahrheit ist.

Warum Juncker?

Es braucht in einer konfliktreichen Verhandlung jemanden, der immer wieder einen neuen Tisch in den Raum stellt, wenn alle aus dem Raum gehen, wenn der Verhandlungstisch niedergebrannt wird. Das hat Juncker gemacht. Auch wenn es manchmal frustrierend ist, weil es unschöne Worte gibt.

Die EU-Kommission hat gesagt, dass in der Flüchtlingspolitik nicht jeder auf sich allein gestellt sein kann in Europa.

Dass wir immer weiterverhandeln, bis fünf vor 12, bis eine Minute vor 12, bis fünf nach 12 – das ist die EU. Wenn Juncker alle nicht immer wieder um einen Tisch versammelt hätte, wäre Griechenland nicht mehr im Euro.

Wie beurteilen Sie als Deutscher die Rolle Deutschlands? Mich hat insbesondere die harte Haltung des damaligen Finanzministers Wolfgang Schäuble irritiert. Ausgehend von den europäischen Budgetregeln forderte er von den Griechen harte Sparmassnahmen und drängte sie mit dem «Grexit auf Zeit» auch fast aus dem Euro.

Ich kann Ihre Irritation nachvollziehen und ich teile sie teilweise. Ich bin zwar Deutscher, aber ich arbeite in der Kommission als Europäer; und ich habe in dieser Griechenland-Frage zwei Deutschland kennengelernt. Das eine Deutschland, das hart war, das auf Regeln gepocht hat, ohne zu fragen, wozu die Regeln da sind. Ein Deutschland, das eine kleine regionale Krise zu einer übergrossen Krise dramatisiert hat. Ich habe aber auch ein Deutschland kennengelernt, das solidarisch war, das in letzter Instanz – in der Person von Frau Merkel – alles getan hat, um den Grexit zu vermeiden.

Selmayr
Legende: Anfang März war Junckers ehemaliger Kabinettschef in einer Art Schnellverfahren zum höchsten Beamten avanciert. Die Blitzbeförderung sorgte für heftige Kritik im Europaparlament. Keystone

Die zweite grosse Krise der letzten Jahre war die Flüchtlingskrise. Kritiker monieren, dass die EU-Kommission mit ihrer Politik die Spaltung in West und Ost mitbefördert hat, indem sie sich mit aller Macht für eine Verteilung von Flüchtlingen eingesetzt hat.

Wenn die Kommission das nicht gemacht hätte, würden sie heute sagen, die Kommission wäre hart, ungerecht und unsolidarisch gewesen. Die Kommission hat doch etwas Wichtiges gemacht. Sie hat gesagt, dass in der Flüchtlingspolitik nicht jeder auf sich alleine gestellt sein kann in Europa. Dass wir für Solidarität gekämpft haben und auch teilweise erfolgreich gewesen sind, ist Teil unseres Jobs. Wir waren nicht überall erfolgreich, aber wir haben nicht unglücklich gehandelt, sondern wir haben unseren Job gemacht.

Die Kritik kommt aber auch von Donald Tusk, dem Präsidenten des Europäischen Rates. Er kritisiert Kommissionspräsident Juncker persönlich. Dieser habe mit seinem arroganten Verhalten den Populisten in die Hände gespielt.

In der Rückschau kann man immer so etwas sagen. Ich habe grossen Respekt vor Herrn Tusk. Aber er hat damals nicht gesagt, was er jetzt sagt. Und er vergisst auch etwas: Es war nicht die Kommission, die die Verteilung der Flüchtlinge beschlossen hat, sondern es war der Ministerrat. Und zwar mit qualifizierter Mehrheit.

Die EU unterscheidet sich von der Sowjetunion, entgegen den Behauptungen der britischen Populisten.

Da ist es doch eigenartig, dass der Kommission arrogantes Verhalten vorgeworfen wird. Sie war bestenfalls erfolgreich mit ihrer Strategie: Sie hat etwas vorgeschlagen, das die Mitgliedstaaten dann mit qualifizierter Mehrheit angenommen haben.

Tusk sagt aber auch, dass es keine erzwungene Solidarität gebe.

Das stimmt. Alles in der EU ist freiwillig. Denn die Mitgliedschaft in der EU ist freiwillig. Der Brexit zeigt das ganz deutlich. Die EU unterscheidet sich von der Sowjetunion, entgegen den Behauptungen der britischen Populisten, dass die Mitgliedschaft nicht freiwillig ist. Man kann auch immer austreten.

Wie geht es nun beim Brexit weiter?

Die EU wird ihre Politik weiterverfolgen, dass der Brexit eine Wahl Grossbritanniens ist. Wir werden Grossbritannien nicht aus der EU drängen. Wir werden Grossbritannien bis zum letzten Tag anbieten, in der EU zu bleiben. Und wir werden ihnen bis zum letzten Tag anbieten, dass sie das Abkommen noch ratifizieren können. Und wenn sie mehr Zeit brauchen, werden wir Grossbritannien mehr Zeit bieten.

Und das strategische Ziel ist, einen No-Deal-Brexit zu verhindern?

Das muss es sein, weil wir eine Union der Verantwortung sind. Die EU wird immer anbieten, das zu verhindern.

Zu welchen Bedingungen?

Es gibt Bedingungen. Wer Mitglied bleiben will, muss EU-Wahlen durchführen. Zudem muss sich Grossbritannien auch loyal in der EU verhalten und nicht als Störenfried.

Und wie ist es mit der weiteren Bedingung, dass Grossbritannien Wahlen oder ein zweites Referendum durchführen muss – ansonsten verlängere die EU nicht?

Das kann die EU Grossbritannien nicht vorschreiben. Das muss eine britische Entscheidung sein. Und wenn es mehr Zeit braucht, dann wird die EU sicher offen dafür sein.

Das EU-Parlament hat Ihre Wahl zum Generalsekretär der EU-Kommission ziemlich kritisiert. Es sprach von einem Coup-ähnlichen Vorgehen und es hat kürzlich erneut Ihren Rücktritt gefordert. Warum hat die Kommission die Sprengkraft der «Affäre Selmayr» dermassen unterschätzt?

Ich glaube es wird unterschätzt, wie die Gegner der Kommission in einer entscheidenden Phase mobilisieren können. Viele haben sich davon ins Bockshorn jagen lassen. Wir machen weiter unsere Arbeit und wir müssen das auch tun. Wir sind in einer ganz entscheidenden Phase der Geopolitik – hier Russland, da die USA, dort der Brexit. Die Kommission darf sich in dieser Frage nicht irritieren lassen.

Dass Leute versuchen, die Kommission zu unterminieren, muss einen nicht überraschen, wenn man einen grösseren Blick auf die Welt wirft.

Dass wir angegriffen werden, dass Angriffe ins Persönliche gehen, das ist bedauerlich, aber damit muss man leider leben können in dieser Situation. Man kann es aber nur, wenn man das Vertrauen der Chefs, des ganzen Kollegiums der Kommissare hat, das habe ich. Dass in dieser Phase Leute versuchen, die Kommission zu unterminieren, muss einen aber nicht überraschen, wenn man einen grösseren Blick auf die Welt wirft.

Das Gespräch führte Oliver Washington.

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