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Trotz Hariris Rücktritt Die politische Elite wird nicht über Nacht verschwinden

Für die Bevölkerung in Libanon war es der Gipfel der Gier. Die Regierung des hochverschuldeten Staates Libanon verkündete – einmal mehr – Dutzende von neuen Steuern. Darunter auch eine Steuer für WhatsApp-Sprachanrufe. Zwar hätte diese nur sechs US-Dollar im Monat ausgemacht. Aber ein grosser Teil der Bevölkerung kann keine Steuern mehr verkraften.

In der nordlibanesischen Stadt Tripoli etwa sind die Menschen so arm, dass diese Steuer einfach eine zu viel war. Sie gingen auf die Strasse. Zunächst entlud sich vor allem die Wut der Jugendlichen: Sie schlugen Fensterscheiben ein, es kam zu Zusammenstössen mit der Polizei.

«Thaura! Thaura!»

In Beirut starben zwei Arbeiter, als Demonstranten ein Gebäude anzündeten. Die Feuerwehr konnte das Feuer nicht schnell genug löschen, sie sei gar zu spät gekommen, sagten die Demonstranten. Für sie ein weiteres Symbol für das komplette Versagen dieser Regierung, die es nicht schafft, ihr Volk mit grundlegenden staatlichen Dienstleistungen wie Strom, sauberem Wasser, Abfallentsorgung und schnellem Internet zu versorgen.

Und plötzlich waren es nicht nur ein paar randalierende Jugendliche. Hunderttausende gingen auf die Strasse und riefen: «Thaura! Thaura!», also: «Revolution!»

«Alle müssen zurücktreten!»

So unklar es ist, wer die Demonstrationen organisiert, so klar ist die Forderung an die Politiker: «Ihr habt versagt, ihr habt uns bestohlen, jetzt wollen wir euch nicht mehr.»

Tatsächlich wurden nach dem Ende des Bürgerkrieges 1990 Milliarden in die Infrastruktur des Landes investiert. Nur – frotzelten die Demonstrierenden – in der syrischen Hauptstadt Damaskus seien die Internetverbindungen schneller und die Stromversorgung stabiler als in Beirut – und das nach acht Jahren Krieg.

«Wo ist das Geld?» fragen die Demonstrierenden. Sie fluchen, machen freche und unflätige Witze über Politiker, singen, tanzen, malen – und das in einem Land, in dem Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass Leute oft nur wegen kritischen Facebook-Posts verhaftet werden.

Sunniten, Schiiten, Christen, Alawiten, Drusen, Arme, Reichere, alle demonstrieren jetzt gemeinsam für eine echte Regierung, in der nicht mehr Milizenführer, Vertreter religiöser Gruppierungen und korrupte Politiker das Sagen haben. Zum ersten Mal überhaupt demonstrierten sie gemeinsam, mit der libanesischen Flagge in der Hand.

Gesucht sich nicht-korrupte Politiker

Nun also bietet Premierminister Saad Hariri dem Staatspräsidenten Michel Aoun den Rücktritt seiner Regierung an. Die Menschen auf den Strassen jubeln. Doch die politische Elite wird nicht über Nacht verschwinden, genauso wenig wie die vielen Waffen der verschiedenen Milizen.

Der mächtige Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah hat gesagt, er werde keinen Rücktritt der Regierung tolerieren. Was das heisst, wird sich in den nächsten Tagen zeigen.

Klar ist nur: so schnell werden die Libanesinnen und Libanesen ihre verhassten Politiker nicht los. Zu lange haben diese ihre Netzwerke gefestigt, und zu lange haben auch die USA und Europa ihrem Treiben fast wortlos zugeschaut.

Zudem steht Libanon am Rande des wirtschaftlichen Kollapses. Gesucht ist eine Regierung, die einen Weg aus dieser Misere findet. Und zwar schnell. Bevor es im Libanon wieder zu Gewalt kommt.

Susanne Brunner

Leiterin Auslandredaktion

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Susanne Brunner war für SRF zwischen 2018 und 2022 als Korrespondentin im Nahen Osten tätig. Sie wuchs in Kanada, Schottland, Deutschland und in der Schweiz auf. In Ottawa studierte sie Journalismus. Bei Radio SRF war sie zuerst Redaktorin und Moderatorin bei SRF 3. Dann ging sie als Korrespondentin nach San Francisco und war nach ihrer Rückkehr Korrespondentin in der Westschweiz. Sie moderierte auch das «Tagesgespräch» von Radio SRF 1. Seit September 2022 ist sie Leiterin der Auslandredaktion von Radio SRF.

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