Der kanadische Premierminister Justin Trudeau ist so etwas wie der heimliche Nachfolger von Barack Obama: Jung, voller Elan, und ein glühender Verfechter von Werten wie Toleranz, Gleichberechtigung und Menschenrechten. Mit eben diesen Werten steht Donald Trump zuweilen auf gespanntem Fuss.
Diplomatischer Drahtseilakt
Der neue US-Präsident regiert sein Land nach der Maxime «America First». Trumps Ankündigung, das Nordamerikanische Freihandelsabkommen Nafta neu zu verhandeln, hat ganz Kanada aufgeschreckt.
Und bereits in den ersten Wochen von Trumps Amtszeit kamen sich die Nachbarn ins Gehege. Den umstrittenen «Muslim Ban» quittierte Trudeau mit einem unzweideutigen Tweet.
Nun reiste Trudeau für seinen Antrittsbesuch nach Washington . Beim Treffen der ungleichen Regierungschefs versuchten beide, ihre Gemeinsamkeiten zu betonen. Eine Gratwanderung, wie der Journalist Gerd Braune meint .
- Nähe und Distanz
«Vermutlich ist in Kanada noch nie einem Treffen des eigenen Premiers mit einem US-Präsidenten mit so viel Spannung entgegengesehen worden. Es ging darum, eine Arbeitsbeziehung zwischen diesen sehr unterschiedlichen Charakteren aufzubauen. Aus dieser Sicht war das Treffen sicherlich ein Erfolg. Das Risiko für Trudeau bestand darin, dass der Eindruck eines zu kumpelhaften Verhältnisses mit Trump aufkommen könnte. Dies hat Trudeau vermeiden können. Er hat eine Arbeitsbeziehung aufgebaut und gleichzeitig Eigenständigkeit wahren können. In den öffentlichen Reaktionen wird ihm das hoch angerechnet.»
- Friedenspfeife statt Handelskrieg
«Trudeau und seine Minister haben sich in den vergangenen Wochen bemüht, in Washington deutlich zu machen, wie wichtig diese Beziehungen für beide sind. Nun lobt Trump sogar die hervorragenden Handelsbeziehungen mit Kanada und spricht von einer Ausweitung. Das ist sicher ein Erfolg für Trudeau. Dennoch herrscht Unsicherheit. Denn Trump hat davon gesprochen, dass die Handelsbeziehung zu Kanada feinjustiert werden müsse. Man fragt sich nun, was das heisst. Kommen doch noch Einfuhrzölle, wird es neue Regelungen für den Handel geben. Die Gefahr eines Handelskrieges ist aber mit dem heutigen Tag geringer geworden. »
- Multikulturalismus und Isolationismus
«Eine Willkommenskultur gegenüber Einwanderern und Flüchtlingen gehört zu Trudeaus Markenzeichen. Das ist auch das Erbe, das er von seinem Vater, dem früheren Premierminister Pierre Trudeau, mitbekommen hat. Unter dessen Führung hat sich Kanada zu einem multikulturellen Land entwickelt, wie wir es heute kennen. Trudeau hat klar gesagt, dass er nicht in Washington ist, um dem Gastgeber politische Ratschläge zu geben. Aber er hat ganz deutlich gemacht, dass Kanada seine offene Politik gegenüber Migranten und Flüchtlingen fortsetzen wird – ohne die Sicherheit aufs Spiel zu setzen. Trudeau erwähnte auch ausdrücklich die Aufnahme von 40‘000 Flüchtlingen aus Syrien, gegen die sich Trumps Einreisestopp besonders richtet. Das war bemerkenswert.»