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Türkei lässt Kritikerin gehen «Die Gräben lassen sich nicht so schnell zuschütten»

Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sind seit Monaten angespannt. Deutsche Politiker kritisierten zuletzt mehrfach den autoritären Regierungsstil des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Dieser schoss verbal zurück. Etwas überraschend kam deshalb die Nachricht, dass die deutsch-türkische Journalistin Mesale Tolu nach Deutschland ausreisen darf. Ende gut, alles gut? Nein, sagt Katrin Brand vom ARD-Studio in Berlin.

Katrin Brand

WDR-Leiterin in Berlin

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Die Deutsche begann 1991 als Redaktorin, Moderatorin und Reporterin zu arbeiten. Später war sie als Korrespondentin in Berlin und Studioleiterin des WDR/NDR-Büros in Brüssel tätig. Seit 2012 ist sie Leiterin des WDR-Büros im ARD-Hauptstadtstudio.

SRF News: Die Deutschtürkin Mesale Tolu darf ausreisen. Katrin Brand, stehen die Zeichen zwischen der Türkei und Deutschland nun auf Entspannung?

Entspannung ist ein grosses Wort. Die Bundesregierung hat die Ausreiseerlaubnis für Tolu begrüsst. Aber ihr Ehemann sowie ein halbes Dutzend deutscher Staatsbürger sind immer noch in Haft. Auch sie müssen freikommen. Darauf legt die Bundesregierung in Berlin grossen Wert.

Die Bundesregierung hat verstanden, dass der Putschversuch ein gravierendes Ereignis für die Türkei gewesen ist.

Wenn man das ganze Bild betrachtet, stellt man fest, dass die Entfernung zwischen der Türkei und Deutschland in den letzten Jahren unter Erdogan sehr gross geworden ist. Die Bundesregierung hat verstanden, dass der Putschversuch ein gravierendes Ereignis für die Türkei gewesen ist.

Aber dass danach Hunderttausende ihre Arbeit verloren haben, Tausende zum Teil ohne Anklage inhaftiert worden sind, dass die bürgerlichen Freiheiten eingeschränkt wurden und die Presse- und Meinungsfreiheit kaum noch existiert, kommt in Deutschland ganz schlecht an. Und wenn man sich in Erinnerung ruft, wie oft die Bundesregierung von Erdogan beschimpft worden ist, dann sieht man die Gräben. Die lassen sich nicht so schnell durch eine Freilassung zuschütten.

Was müsste geschehen, damit sich die Beziehungen wieder normalisieren?

Die Bundesregierung hat immer wieder gesagt, dass die Türkei ein wichtiger Partner für die Deutschen ist, und sie möchte, dass die Türkei enger an Europa angebunden wird. Aber dazu müsste Präsident Recep Tayyip Erdogan sich an die Regeln der Rechtsstaatlichkeit halten, wie sie in Europa üblich sind.

Mesale Tolu im vergangenen Dezember.
Legende: Bis im letzten Dezember sass Mesale Tolu im Gefängnis: Die deutsch-türkische Journalistin darf nun die Türkei verlassen. Keystone

Dazu gehört, dass Journalisten nicht ins Gefängnis geworfen werden, weil sie regierungskritische Artikel schreiben. Dass Menschen, die im Gefängnis sitzen, einen Prozess und eine Anklageerhebung bekommen, die den europäischen Standards entspricht. Das sind zwei wichtige Punkte, die im Forderungskatalog der Bundesregierung sehr weit oben stehen.

Der türkische Präsident wird nächsten Monat zu einem Staatsbesuch empfangen. Geht Deutschland damit einen zu grossen Schritt auf ihn zu?

Erdogan ist im Juni demokratisch wiedergewählt worden. Er ist als Präsident der Türkei legitimiert, da gibt es kein Vertun. Das ist auch die klare Haltung der Bundesregierung. Nun hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Präsident Erdogan nach Berlin eingeladen. Das war nach etlichen Jahren wieder einmal fällig. Und diese Staatsbesuche laufen eben nach einem bestimmten Ritual ab. Erdogan wird behandelt wie alle anderen Präsidenten auch. Er wird mit militärischen Ehren empfangen und es gibt ihm zu Ehren ein Staatsbankett.

Miteinander zu sprechen ist besser als nicht miteinander zu sprechen – beziehungsweise nur übereinander zu sprechen.

Aber ich bin mir sicher, dass Steinmeier dabei auch deutliche Worte zum Zustand der Türkei finden wird. Natürlich gibt es auch eine innenpolitische Diskussion darüber, ob dieser rote Teppich angemessen ist. In der Situation, in der sich die beiden Länder im Moment befinden, muss man erst einmal den gemeinsamen Ton wiederfinden, wenn die Chemie so gar nicht stimmt.

Einerseits muss die deutsche Regierung auf Rechtsstaatlichkeit pochen, aber sie muss auch die Realpolitik betrachten: Sehr viele Türken leben in Deutschland, und es besteht ein Flüchtlingsabkommen zwischen der Türkei und der EU. Da kann man die Beziehungen nicht ganz abreissen lassen...

Nein, auf keinen Fall. Miteinander zu sprechen ist besser als nicht miteinander zu sprechen – beziehungsweise nur übereinander zu sprechen. Das ist über alle Parteien hinweg die Philosophie in der Bundesregierung. Drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln leben in Deutschland. Und die Türkei ist ein wichtiger Partner in Sachen Flüchtlingsabkommen. Die Flüchtlinge, die aus Syrien kommen, werden in der Türkei erst einmal aufgenommen. Die Türkei leiste da Grosses, sagt Angela Merkel immer wieder. Und ohne dieses Abkommen hätte Deutschland ein viel massiveres Flüchtlingsproblem.

Die Türkei fallenzulassen ist aus deutscher Perspektive keine Option.

Dann ist die Türkei natürlich auch ein Nato-Partner und spielt eine wichtige Rolle im Syrienkrieg. Die grosse Frage ist: Wird sich Erdogan eher Richtung Russland orientieren, jetzt, da der Streit zwischen ihm und US-Präsident Donald Trump auf vollen Touren läuft? Die Türkei fallenzulassen ist keine Option aus deutscher Perspektive.

Könnte die aktuelle Wirtschaftskrise in der Türkei eine Chance für Deutschland sein, sich mit Wirtschaftshilfen wieder anzunähern?

Das wird im Moment in Deutschland heftig diskutiert. Die SPD-Chefin Andrea Nahles hat vorgeschlagen, über Wirtschaftshilfen nachzudenken. Das führte zu einem einheitlichen Aufschrei. Das Regime Erdogan jetzt auch noch mit deutschen Steuergeldern zu stabilisieren, das gehe gar nicht, hiess es.

Erdogan arbeitet an seinem Präsidialsystem und daran, sich die Türkei auf den Leib zu schneidern.

Aber natürlich ist die Überlegung: Wie kann verhindert werden, dass die Türkei abrutscht? Vieles liegt in der Hand Erdogans. Dabei geht es auch um Zinspolitik – also um Dinge, auf die die Bundesregierung sowieso keinen Einfluss hat. Aber wirtschaftliche Annäherung auf der einen Seite und Zugeständnisse im Bezug auf Rechtsstaatlichkeit auf der anderen Seite, das ist immer eine Frage, die in solchen Gesprächen gestellt wird.

Und natürlich gibt es die Hoffnung, dass in dieser Krise auch die Chance auf eine Kurskorrektur stecken könnte. Aber machen wir uns nichts vor: Erdogan arbeitet an seinem Präsidialsystem und daran, sich die Türkei auf den Leib zu schneidern. Daran wird er grundsätzlich nichts ändern.

Das deutsch-türkische Verhältnis wird also angespannt bleiben?

Ich denke, die politisch aktiven Kräfte in Berlin haben sich darauf eingestellt, dass die Beziehungen nicht besser werden, solange Erdogan das Schicksal der Türkei bestimmt. Allerdings weiss auch keiner, was nach ihm kommt. Insofern wird hier immer wieder versucht, Angebote an die Zivilgesellschaft in der Türkei zu machen, wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht aufzugeben und die Hoffnung nicht fallenzulassen, dass sich die Türkei doch noch in Richtung Demokratie und Europa bewegen könnte.

Das Gespräch führte Roger Aebli.

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