Erdogan: Für viele ein Übervater
In der Wahrnehmung des Westens mutiert der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zusehends zum Despoten. Belege hierfür gibt es offenbar in einem Ausmass, das Wikipedia-Autoren im Erdogan-Artikel dazu verleitete, dessen Kanten unter einem eigenständigen Kapitel «Kontroversen» zu rubrizieren.
Das beginnt bei berechtigten Zweifeln an seinem akademischen Grad (Abschluss in Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften) und endet bei seinen aktuellen Methoden, sich der Opposition und ungeliebter Medien zu entledigen. Etwas anders verhält sich die Wahrnehmung seiner Person im eigenen Land.
Zumindest eine Hälfte der Wahlberechtigten huldigt ihrem Präsidenten mit bisweilen verstörender Hingabe. Eine vor allem westliche Verstörung, die unter anderem auf einer zu einseitigen Berichterstattung westlicher Medien fusst, wie die SRF-Türkei-Korrespondentin Ruth Bossart anmerkt.
Will man aber der geteilten Begeisterung für Erdogan und dem türkischen Verständnis für seine Machtpläne gerecht werden, komme man nicht umhin, ihn aus türkischer Sicht zu verstehen, so Bossart.
Ein Mann aus dem Volk...
Erdogan gehört nicht zur klassischen politisch-ökonomischen Elite, die das Land vor ihm jahrzehntelang in kemalistischer und sekulärer Tradition regierte. 1954 in Istanbul geboren, entstammt er einer Familie, die ursprünglich aus dem Nordosten der Türkei nach Istanbul zog.
Sein Vater war einfacher Seemann. Er schickte den Sohn an ein religiös orientiertes Fachgymnasium, wo Erdogan mit einem Fachabitur für Imame abschloss. Seither spricht er die Sprache derjenigen Bevölkerungsteile, die bezüglich der Modernisierung des Landes durch Atatürk entweder leer ausgegangen oder in ihrer Religiosität verletzt worden sind. Und diesem Teil der Türken hat Erdogan nicht nur Worte zuteilwerden lassen.
...der nicht nur redet...
Die politische Hinterlassenschaft ist durchaus geeignet, auch Bewunderung für den Mann zu entwickeln. In der Zeit als Oberbürgermeister von Istanbul (1994-98) fiel er nicht nur mit seinem konservativ-religiösen Stil auf. Sein Pragmatismus mündete in grosse infrastrukturelle Projekte wie die Instandhaltung der Strom- und Wasserleitungen oder die Verbesserung öffentlicher Dienste. Das brachte ihm Vertrauen ein.
In seiner nunmehr bald 20-jährigen Polit-Karriere hat keiner so viele Universitäten und Spitäler gebaut wie Recep Tayyip Erdogan.
Dieses Vertrauen seitens des kleinen Bürgers wurde ihm 1998 quasi vergoldet, wenn auch auf bittere Weise. Das Staatssicherheitsgericht verurteilte damals Erdogan im Zuge des Verbotes der von ihm mitgetragenen Wohlfahrtspartei zu 10 Monaten Gefängnis. Dadurch wurde Erdogans Glaubwürdigkeit gestählt.
Mehr zur Person Erdogans
Eine Glaubwürdigkeit, die Erdogan für diese Schichten auch auf der nationalen Politikbühne nicht verspielte. Zumindest in den Anfängen, nach dem Wahlsieg seiner AKP 2002, unterstützte Erdogan den Ausbau der Demokratie. Die Todesstrafe wurde abgeschafft, die Meinungsfreiheit zunächst erweitert, der Kampf gegen die Folter verstärkt – dies alles mit einem möglichen EU-Beitritt vor Augen.
In seiner nunmehr bald 20-jährigen Polit-Karriere hat keiner so viele Universitäten und Spitäler gebaut wie Recep Tayyip Erdogan. Selbst mit den Kurden im Land hat er ab 2012 den Friedensprozess auf den Weg gebracht. Freilich ist dieser heute wieder versiegt – religiöse Kurden verehren Erdogan indes noch heute. Denn seine AKP bietet ihnen eine ideologische Heimat, was die links-ausgerichtete prokurdische HDP nicht kann.
Erdogan entwickelte in seiner Regierungszeit auch periphere Regionen des Landes und führte die Türkei nach der Finanzkrise mit progressiven Instrumenten aus dem Schlamassel heraus. Der Türkei-Kenner und NZZ-Journalist Marco Kauffmann erklärt mit diesen ökonomischen Erfolgen auch die heutige Verhaltenheit der ihm nicht geneigten Wirtschaftskreise.
Mit der Stabilität, die ein präsidial gestärkter Erdogan dem Land bringen würde, lässt sich die bittere Pille der 18 Modifikationen des Grundgesetzes auch für sie leichter schlucken. Lieber Geld verdienen als Machtkämpfe führen. Womit wir zu einem weiteren Charakteristikum des laufenden Machtballungsprozesses in der Türkei kommen: dem unterschiedlichen Verständnis von der Tauglichkeit der Demokratie.
...und Demokratie nur als Mittel versteht
Der Westen neigt nämlich dazu, Demokratie als Ziel politischer Vollendung zu definieren. Viele patriarchale Kulturen mit autokratischer Tradition misstrauen dieser Favorisierung. Im besten Fall ist Demokratie für sie ein Mittel zum Zweck. So stand für Erdogan schon immer der Islam im Mittelpunkt.
Eine Ausrichtung, die sich nicht zuletzt den historischen Erfahrungen mit Europa verdankt. Erfahrungen der kulturellen Marginalisierung, die seit der vernichtenden türkischen Niederlage im 1. Weltkrieg am nationalen Selbstverständnis nagen. Erdogan widersetzt sich heute Europa öffentlich und geisselt den Liberalismus. Das stärkt das Selbstverständnis der moslemischen Welt weit über die Grenzen der Türkei hinaus.
Dass hierzu auch Repression zur Anwendung kommt, ist für den türkischen Politologen Cuma Cicek wenig erstaunlich. Wenn dem patriarchalischen Staat die Hegemonie der Argumentation abhanden komme, weil die Hälfte der Bevölkerung damit nicht mehr erreicht würde, so Cicek im Interview mit Ruth Bossart, dann bleibe dem Staat nur noch Gewalt, um sich durchzusetzen. Ein Muster, das man im harten Vorgehen gegen die Kurden im Südosten des Landes erkennen, aber auch in der Unterdrückung des Nein-Lagers im Abstimmungskampf rund um das Verfassungsreferendum sehen kann.
Der tiefe Graben
So führt ein tiefer Graben durch das türkische Volk. Auf der einen Seite stehen jene, die von Erdogans postkemalistischem Konservativismus profitiert haben. Auf der anderen stehen die liberalen Eliten und ein gebildeter Mittelstand in den Zentren, die von Erdogans Leistungen nicht tangiert worden sind. Im Moment scheinen die Anhänger Erdogans Oberhand zu haben.
Und vielleicht ist dieser Vorgang gar nicht so weit weg von den Entwicklungen in der westlichen Welt. Auch hier erfreuen sich ja zurzeit jene Machtträger einer zunehmenden Popularität, die jenen mit wenig Einfluss glaubhaft eine neue Wichtigkeit attestieren.