Zum Inhalt springen

Türkei unter Erdogan «Wir sehen hier keine Zukunft mehr»

Mehr als acht Jahre lang berichtete die Journalistin Luise Sammann aus der Türkei – auch für Radio SRF. Doch nun kehrt sie dem Land den Rücken. Als Grund für die Entscheidung ihrer jungen Familie macht sie die dramatischen Veränderungen im Land am Bosporus verantwortlich.

SRF News: Wieso wollen Sie ihre Kinder nicht in der Türkei aufwachsen lassen?

Luise Sammann: Die Situation in der Türkei ist für uns immer belastender geworden. Mein Mann und ich – wir arbeiten beide als Journalisten – haben uns mit jedem verhafteten Kollegen fragen müssen, ob die Türkei noch das Land ist, in dem wir unsere Zukunft sehen. Als Familie mit kleinen Kindern kamen wir zum Schluss, dass es das nicht sein kann. Deshalb wagen wir nun in Deutschland einen Neustart.

Ein vermummter und bewaffneter Polizist steht in einem Tarnanzug vor einer Hausfassade und blickt hinunter.
Legende: «Erdogan will keinen Protest», sagt Sammann: Ein Polizist beobachtet eine Demonstration in Istanbul. Reuters

Sie haben mehrere Jahre in Istanbul gelebt und gearbeitet, und hatten eigentlich nicht die Absicht, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Wie schwer fiel Ihnen nun dieser Entscheid?

Nach achteinhalb Jahren in der Türkei war es schon sehr schwer, denn die Türkei war mir am Ende mehr ein Zuhause als Deutschland – mein Mann ist Türke und meine Tochter entsprechend Halbtürkin. Hinzu kommt das schlechte Gewissen, weil man weiss, dass nicht jeder Türke die Wahl hat, einfach zu gehen. Wir stellten uns die Frage, ob es feige ist, das Land zu verlassen.

Die Aufbruchstimmung und Zuversicht von 2010 hat sich inzwischen ins Gegenteil verkehrt.

Schwer war der Schritt zudem, weil die Türkei jetzt ein ganz anderes Land ist als 2009. Als ich damals nach Istanbul gezogen bin, war sie die angesagte Stadt schlechthin. Ich wurde beneidet, viele Bekannte kamen mich besuchen. Überall waren Aufbruchstimmung und Energie zu spüren. Jeder Sesamkringel-Verkäufer hatte die Zuversicht in den Augen, dass er bald seinen eigenen Laden führen und die Türkei bald Mitglied der EU sein würde. Es lag etwas in der Luft, und das hat uns angesteckt. Es hat Spass gemacht, darüber zu berichten und mit dieser allgegenwärtigen Energie umzugehen. Das hat sich jetzt ins Gegenteil verkehrt. Am Schluss hat es uns belastet, dass jedes Gespräch, das wir führten, von negativer Stimmung geprägt war. Jeder war entweder frustriert oder voller Hass.

Gibt es einen bestimmten Zeitpunkt, an dem die Stimmung kippte, oder war die Entwicklung seit 2009 eher schleichend?

Schleichend ist wohl tatsächlich das richtige Wort. Zwar gab es immer wieder Akzente, welche einem die negative Entwicklung vor Augen führten. Einer waren etwa die Gezi-Proteste 2013 und die Art und Weise, wie sie niedergeschlagen wurden. Da wurde klar, dass Erdogan keine Proteste will – und er ist sogar gestärkt daraus hervorgegangen. Andere Momente waren der niedergeschlagene Militärputsch im Sommer 2016 oder das Präsidentschafts-Referendum im vergangenen Frühling, mit dem Erdogan seine Macht weiter zementiert hat.

Von aussen betrachtet, wirken die Ereignisse oftmals viel dramatischer, als wenn man innerhalb des Systems seinen Alltag lebt.

Allerdings bemerkt man manche Entwicklungen selber manchmal gar nicht so sehr, wenn man in einem solchen System lebt. Von aussen betrachtet, wirken die Ereignisse oftmals viel dramatischer, als wenn man innerhalb des Systems seinen Alltag lebt. So führten wir unser Leben auch nach dem Putschversuch im Juli 2016 wie gewohnt weiter: Wir kauften in der Istanbuler Altstadt ein, brachten unsere Tochter wie immer in die Kita oder waren auf Hochzeiten. In der Innenansicht verlief die negative Entwicklung in der Türkei deshalb tatsächlich schleichend, und es war deshalb kaum möglich zu sagen: Jetzt ist der Punkt erreicht, an dem es uns zu viel wird und wir gehen.

Sprechen in der Türkei die Erdogan-Anhänger noch mit den Erdogan-Gegnern?

Die extrem gespaltene Gesellschaft ist aktuell wohl eines der grössten Probleme in der Türkei. Der Kontakt zwischen den Erdogan-Anhängern und -Gegnern ist kaum noch vorhanden. Das geht so weit, dass Familien in die Brüche gehen, oder man innerhalb der Familie zumindest nicht mehr über Politik spricht und dieses Thema vollständig ausklammert. Die beiden Lager verkehren mittlerweile in völlig getrennten Welten.

Erdogan-Anhänger und -Gegner leben in zwei völlig verschiedenen Welten.

Das betrifft Schulen, Zeitungen, Fernsehsender, Restaurants, Hotels und sogar ganze Stadtteile. Zwischen den beiden Lagern ist kein Dialog mehr vorhanden – aber es gibt auch keinen Streit. Man lebt einfach in einer der beiden Welten und nimmt nur diese wahr. Das führt zu immer mehr Unverständnis und Hass. Insofern sehe ich die Türkei in den kommenden Jahren eher weiter in Richtung Abgrund steuern.

Wie kann man diese ungesunde Situation durchbrechen?

Das ist sehr schwierig. Man muss sich klarwerden, dass das grösste Problem der Türkei nicht Präsident Erdogan ist – das Erdogan-Bashing ist ja derzeit gross in Mode. Tatsache ist, dass Erdogan von der Mehrheit der Türken gewählt wurde. Es stehen sehr viele Menschen im Land hinter ihm – und das ist das Gefährliche. Offensichtlich wünschen sich viele Türken einen Führer, wie Erdogan einer ist. Das grosse Problem ist also ein gesellschaftlich-demokratiepolitisches.

Die Türken bräuchten Dialog und Austausch mit dem Ausland. Doch Erdogan strebt die Isolation an.

Gerade mit Europa bräuchten die Türken viel Dialog und Austausch. Entsprechend führen Massnahmen zur Isolation des Landes – etwa der Stopp von Schüler- und Studentenaustausch-Programmen oder von Kulturförderung – in die genau falsche Richtung. Ausserdem ist eine Isolation genau das, was Erdogan anstrebt. So dringen immer weniger Stimmen zu den Leuten in der Türkei durch, die ihnen sagen, wie es in der Welt draussen tatsächlich steht. Gleichzeitig behauptet Erdogan ständig, die ganze Welt sei gegen die Türkei. Das ist eine grosse Gefahr. Deshalb sollte der Westen den Dialog mit der türkischen Gesellschaft und den demokratischen Kräften auf keinen Fall abbrechen.

Das Gespräch führte Christoph Kellenberger.

Meistgelesene Artikel