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Türkei vor Schicksalswahl So will die Opposition Erdogan aus dem Palast katapultieren

Ein Sechserbündnis wittert in der Wirtschaftskrise seine Chance. Noch fehlt aber der Name, der es mit Erdogan aufnimmt.

Es sind sechs Parteien, die gemeinsam Front machen gegen Präsident Erdogan. Bisher einte sie vor allem die Überzeugung, dass die Türkei einen Neustart brauche und Erdogan nach 20 Jahren an der Macht wegmüsse.

Zum Wochenbeginn traten sie in Ankara als Nationale Allianz an die Öffentlichkeit mit einem gemeinsamen Programm. Sie wollen beim Neustart ganz oben ansetzen: Beim Präsidialsystem, das Erdogan sich vor fünf Jahren mit der neuen Verfassung auf den Leib schneidern liess.

Regieren ohne Widerspruch

Vom seinem Präsidentenpalast in Ankara aus dirigiert er seither ohne Widerspruch die Geschäfte, entlässt Rektoren, Ministerinnen, Notenbankchefs. Er greift auch in die Justiz ein, regiert oft mit Dekreten, am Parlament vorbei.

Anstelle der präsidialen Allmacht müsse «die Türkei zur Gewaltentrennung mit einem starken und fairen parlamentarischen System zurück», stellte Faik Öztrak fest, der stellvertretende Parteichef der CHP als grösster Partei im Bündnis.

Die Allmacht des Präsidenten muss aufhören, die Türkei zur Gewaltentrennung mit einem starken und fairen parlamentarischen System zurückkommen.
Autor: Faik Öztrak Stv. Parteichef der sozialdemokratischen CHP

Mehr als 2000 Punkte, ausgebreitet auf mehr als 200 Seiten umfasst das gemeinsame Programm für die Wahlen im Mai: Das Amt des Premiers oder der Premierministerin, das Erdogan abschaffen liess, soll wieder her. Die Justiz soll wieder frei von präsidialer Einflussnahme sein. Die Opposition gibt auch ein Bekenntnis zu einer unabhängigen Notenbank ab, was Investoren freuen wird, dazu ein Bekenntnis zur Partnerschaft mit dem Westen in der NATO.

Wirtschaftskrise als grösste Chance

Hauptsorge der Bevölkerung bleibt die desolate Wirtschaftslage. Erdogan hatte zu Beginn seiner Regierungszeit dem Land einen Boom beschert. Viel billiges Geld aus dem Ausland floss damals in die Türkei. Heute stehen die Menschen Schlange für verbilligtes Brot. Bis in den Mittelstand hinein kriechen die Existenzängste angesichts der gewaltigen Inflation.

Sechserbündnis
Legende: Das Oppositionsbündnis präsentiert sich in Ankara, v.l. n.r.: Der ehemalige türkische Aussenminister Ali Babacan (DEVA), CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu, Saadet-Chef Temel Karamollaoglu, Ex-Innenministerin Meral Aksener (nationalkonservative IYI-Partei), Ex-Premier Ahmet Davutoglu (Zukunftspartei Gelecek) und Demokrat-Parti-Präsident Gültekin Uysal. Keystone/EPA/ALP/Eren Kaya

Im Hinblick auf die Wahlen verteilt Erdogan jetzt zwar eifrig Geld. Er erhöhte den Mindestlohn, linderte Steuerschulden. Das bremste seine Baisse in den Umfragen prompt etwas, doch eine klare Stimmungswende zu seinen Gunsten brachte es nicht. Darin liegt die grösste Chance der Opposition.

Kurdische HDP – ein heikler Hoffnungsträger

Dennoch wird die Nationale Allianz auf die Stimmen der kurdisch geprägten HDP angewiesen sein, wenn sie Erdogan verdrängen will. Deren Potential an der Urne liegt bei gut zehn Prozent. Das macht sie ziemlich sicher zum Zünglein an der Waage.

Doch das Sechserbündnis windet sich, will nicht mit der HDP an einen Tisch sitzen, wegen derer angeblichen Nähe zum kurdischen bewaffneten Untergrund. Die Partei hat deshalb auch die Justiz am Hals und es droht ihr ein Verbot noch vor den Wahlen. Falls es soweit kommt, will die HDP unter neuem Namen dennoch antreten.

Wer nimmt es mit Erdogan auf?

Doch die grösste Frage ist noch offen: Wer tritt gegen den gewieften Wahlkämpfer Erdogan in den Ring? Die Stadtpräsidenten von Istanbul und Ankara, Ekrem Imamoglu und Mansur Yavas, beide CHP, hätten gemäss Umfragen die besten Chancen gegen Erdogan. Aber auch Imamoglu kämpft mit der Justiz und ist wegen angeblicher Behördenbeleidigung erstinstanzlich verurteilt.

CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu sieht sich selbst als aussichtsreichen Oppositionskandidaten. Er gilt als integer, aber wenig charismatisch. Über die Kandidatur werde am 13. Februar gemeinsam entschieden werden, sagt er.

Echo der Zeit, 30.01.2023, 18:00 Uhr

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