Im Völkerrecht steht: «Ein Staat darf nicht mit Gewalt in das Gebiet eines anderen Staates eindringen.» Doch die Militäroffensive der Türkei gegen kurdische Milizen im Norden Syriens geht weiter. Kritiker schätzen den Einsatz als eindeutig völkerrechtswidrig ein. Deutschland, Frankreich und die USA jedoch haben die Türkei lediglich um Mässigung gebeten. UNO-Berichterstatter Andreas Zumach erklärt, warum die Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats die Türkei machen lassen.
SRF News: Warum lässt der UNO-Sicherheitsrat die Türkei in Syrien gewähren?
Andreas Zumach: Der Hauptgrund ist, dass wir seit 2001 eine Erosion des Völkerrechts haben. Die völkerrechtliche Bestimmung lässt nur zwei Ausnahmen zu: Entweder der Sicherheitsrat hat Gewaltmassnahmen gegen ein Land beschlossen oder aber ein Land wird angegriffen. Dann darf es sich unmittelbar selbst verteidigen, muss aber schnell an den Sicherheitsrat der UNO gelangen und um Beistand bitten. Diese beiden Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt.
Die USA stellten die Behauptung auf, dass Terroranschläge ein bewaffneter Angriff seien. Auf diese Logik beruft sich nun auch Erdogan.
Das Vorgehen geht auf die Reaktion der USA nach den Anschlägen des 11. September 2001 zurück. Sie stellten die Behauptung auf, dass Terroranschläge ein bewaffneter Angriff seien, und dass man auch Monate später gegen die Verursacher vorgehen kann. Auf diese Logik beruft sich nun auch Erdogan.
Die Türkei geht so vor, wie westliche Staaten es auch schon gemacht haben?
So kann man es sagen. Ich vertrete die Meinung, dass die Annexion der Krim 2014 eine völkerrechtswidrige Aktion war, daher waren es nicht nur westliche Staaten, aber hauptsächlich. Sie haben seit dem 11. September 2001 diese völkerrechtliche Bestimmung missachtet.
Die syrischen Kurden haben noch gar nichts verbrochen.
Sie nehmen sich das Recht heraus, notfalls präventiv gegen Organisationen vorzugehen, die sie als Terrororganisationen definieren, selbst dann, wenn diese noch gar nichts gemacht haben. Das ist ja hier mit Blick auf die syrischen Kurden der Fall. Sie haben noch gar nichts verbrochen.
Die kurdischen Milizen hissen Fahnen des Kurdenführers Öcalan. Laut der Türkei ist er ein verurteilter Terrorist. Ist es da nicht verständlich, dass man einen autonomen Kurdenstaat als Bedrohung ansieht?
Angenommen, die türkischen Kurden hätten so viel Autonomie bekommen, wie sie fordern: Dann wäre das Begehren, einen eigenen Staat zu haben, längst vorbei. Und dasselbe gilt für die syrischen Kurden. Die Art von militärischer Reaktion auf dieses Begehren hat zur Radikalisierung der Kurden geführt. Sie hat diejenigen, die viel weiter gehen und möglicherweise einen eigenen Staat fordern und dafür auch militärische Gewalt anwenden, eher noch gestärkt. Das ist die problematische Dynamik. Die Forderung nach einem autonomen Staat als solche ist keine legitime Bedrohung, um militärisch einzugreifen.
Im Prinzip sagen Sie: Die Türkei und der Westen sind selber schuld, wenn es nachher Terroranschläge gibt?
Ich sage das voraus, und leider bin ich damit auch schon richtig gelegen. Leider, sage ich mit Blick auf den IS. Die Staaten, die bei der Bekämpfung des IS mithelfen – in welcher Form auch immer – haben Terroranschläge erlebt. Das gilt für die Türkei selber, das gilt für Frankreich, für Deutschland, für die USA. Das ist leider die Erfahrung. Und deshalb ist meine Sorge, dass es als Reaktion auf den Krieg Erdogans – der ja in Berlin, Washington und Moskau zumindest billigend in Kauf genommen wird – zu Anschlägen kommen wird. Nicht nur in der Türkei, sondern vielleicht auch in Deutschland. Der Krieg wird ja unter anderem mit deutschen Leopard-Panzern geführt.
Die USA sind in Nordsyrien im östlichen Teil präsent. Sie wollen dort bleiben. Was wird passieren, wenn sie sich nicht zurückziehen?
Wenn Erdogan seine Ankündigung wahrmacht und den Krieg nicht nur Richtung Süden, sondern Richtung Osten bis zur irakischen Grenze ausweitet, dann werden die türkischen Truppen in einen Ort einziehen, in dem nach wie vor amerikanische Ausbildner sitzen.
Im Extremfall könnte es zu einer Auseinandersetzung zwischen Truppen des Nato-Staates Türkei und Truppen des führenden Nato-Staates USA kommen.
Das sind Militärs, die die syrisch-kurdischen Milizen an Waffen aus den USA ausbilden, um gegen den so genannten Islamischen Staat zu kämpfen. Im Extremfall könnte es zu einer Auseinandersetzung zwischen Truppen des Nato-Staates Türkei und Truppen des führenden Nato-Staates USA kommen.
Kurden haben massgeblich dazu beigetragen, dass sich der IS auf dem Rückzug befindet. Nun ist diese Aufgabe erfüllt. Lässt der Westen sie nun fallen?
Diesen Eindruck kann man haben. Die USA haben bis gestern jedenfalls noch gesagt, dass diese Kurdenmilizen die erfolgreichsten Bodentruppen gegen den IS waren und sind. Die brauchen sie auch noch und bis gestern wurden sie militärisch von den USA unterstützt. Der Militärchef Erdogans hat mit den Amerikanern telefoniert. Jetzt behauptet Erdogan, der zuständige Amerikaner habe zugesagt, die Waffenlieferungen würden eingestellt. Wir hören solche Behauptungen nur aus Ankara, nie aus Washington. Wenn dem so ist, dann kann man das so interpretieren, dass die Amerikaner die Kurden fallen lassen, nachdem sie ihre Schuldigkeit getan haben. Aus Deutschland gibt es dieses Signal auf jeden Fall. Man hat dem türkischen Aussenminister gesagt, du kannst die Panzer auch für diesen Feldzug benutzen. Und aus Moskau – das ist ja das Irre an dieser Situation – gab es erwiesenermassen grünes Licht für Erdogan.