In der Türkei wurde Mitte Februar eine Datenbank für Stammbäume im Internet zugänglich gemacht. Über acht Millionen Menschen sollen bereits ihre Herkunft nachgeschlagen haben. Die Daten waren von den türkischen Behörden systematisch aufgezeichnet worden. Was bringt das? NZZ-Korrespondent Marco Kaufmann erklärt die Umstände.
SRF News: Warum wurde diese Stammbaum-Datenbank gerade jetzt öffentlich zugänglich gemacht?
Marco Kaufmann: Wieso die Behörden gerade jetzt ihre Register öffnen, ist rätselhaft. Man wolle der Bevölkerung entgegenkommen, sagen sie. Es soll immer wieder Anfragen gegeben haben, die aus rechtlichen Gründen nicht beantwortet werden konnten.
Die ethnischen und religiösen Wurzeln sind in der Türkei ein hochsensibles Thema. In einigen Familien wurde jahrzehntelang darüber geschwiegen.
Doch diese Begründung stösst auf Skepsis, da die türkischen Behörden sonst wenig kundenfreundlich sind. Einige Beobachter befürchten, die Daten könnten zur Stimmungsmache gegen Minderheiten benutzt werden.
Die Datenbank zeigt, dass die Vorfahren vieler Türken kurdische, griechische, armenische oder jüdische Wurzeln hatten. Sie gehören also zu den Minderheiten im Land. Birgt das politischen Zündstoff?
Ja. Die ethnischen und religiösen Wurzeln sind in der Türkei ein hochsensibles Thema. In einigen Familien wurde jahrzehntelang darüber geschwiegen. Einige offenbarten erst auf dem Sterbebett, dass sie beispielsweise armenischer Herkunft sind. Da spielt Scham hinein, weil die Vorfahren zum muslimischen Glauben konvertiert waren oder Angst vor Diskriminierung hatten. Wenn wir aber auf die letzten zehn Jahre zurückblicken, dann gab es durchaus Bemühungen, auf Minderheiten zuzugehen, auch unter Präsident Erdogan. Doch hat der Wind gedreht. Vor allem seit dem Putschversuch 2016 wird die Türkei von einem Nationalismus erfasst, der kaum Platz für Minderheiten lässt.
Hat die Regierung auch deshalb die Stammbäume geheimgehalten, weil diese Daten es erlaubten, Angehörige von Minderheiten besser zu kontrollieren?
In der Tat gibt es starke Indizien, dass Angehörige von Minderheiten systematisch diskriminiert wurden. Eine armenische Zeitung deckte vor Jahren auf, dass Griechen im türkischen Bevölkerungsregister mit einer 1, Armenier mit einer 2 und Juden mit einer 3 markiert wurden. Für wichtige Posten in der Verwaltung wurden nicht berücksichtigt. Inwiefern dies heute noch praktiziert wird, ist aber unklar.
Was ist denn in Zeiten von Präsident Erdogan ein richtiger Türke?
Es sind Türken, die dem sunnitischen Islam angehören und türkisch sprechen. Armenier, Kurden, Aleviten und andere Minderheiten stehen latent unter Verdacht, fremden Mächten hörig zu sein und die Einheit der Republik zu gefährden.
Wer griechische Wurzeln hat, rechnet sich Chancen auf einen EU-Pass aus.
Es gibt zwar einige Vertreter der Minderheiten im Parlament, aber das Stigma wurde dadurch nicht aus der Welt geschafft.
Könnte diese neue Datenbank dazu beitragen, dass ethnische und religiöse Minderheiten vermehrt bedroht werden?
Theoretisch sollte das nicht passieren, weil ja nur Privatpersonen mit einem Passwort Zugriff auf die eigenen Daten haben. Doch es besteht eine Missbrauchsgefahr. In den sozialen Medien gehen Nationalisten bereits in Stellung. Ich habe gesehen, dass sich manche brüsten, sie besässen zu 100 Prozent türkisches Blut. In der aufgeheizten Stimmung lässt sich sich leicht vorstellen, dass Minderheiten quasi geoutet werden. Denn bereits vor der Öffnung des Archivs mehrten sich Übergriffe auf alevitische Einrichtungen.
Warum klicken so viele Menschen diese Datenbank an, gerade auch die Nachfahren von Minderheiten?
Man kann verschiedene Phasen unterscheiden. Die erste Zuwandererbewegung wollte nicht auffallen und strebte eine Integration an. Die zweite Generation verdrängte ihre Herkunft aus Angst vor Nachteilen. Bei der dritten kommt jetzt die Neugier, die die treibende Kraft ist. Dazu kommen noch ganz pragmatische Überlegungen: Wer griechische Wurzeln hat, rechnet sich Chancen auf einen EU-Pass aus.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.