Im Radio und im Fernsehen erreichte die Übertragung der ersten öffentlichen Anhörungen der tunesischen «Instanz Wahrheit und Würde» rekordhohe Einschaltquoten. Auch im Saal verfolgte das Publikum aufmerksam die Aussagen der Zeugen.
Etwa von Fatma Matmati: Die alte Frau sitzt auf dem Podium an einem Tisch auf der rechten Seite der Wahrheitskommission. Die Schultern eingezogen, leicht nach vorn gebeugt, berichtet sie von ihrem Sohn Kamel.
An einem Oktobermorgen vor 25 Jahren verliess er wie gewohnt das Haus, ging zur Arbeit im Elektrizitätswerk. Dort holte ihn die Polizei ab und brachte ihn ins Gefängnis. Jahrelang fehlte von ihm jede Spur. In Abwesenheit verurteilte ihn ein Gericht zu 17 Jahren Haft.
18 Jahre Ungewissheit
Kamels Familie will wissen, was geschehen ist. Vor der Wahrheitskommission berichtet die Mutter, wie sie aus der Provinz nach Tunis reist, dort jahrelang vergeblich bei Behörden, beim Gericht oder in Gefängnissen nach Spuren des Sohnes forscht. Je länger Fatma redet, desto deutlicher werden ihre Gefühle hörbar. Mit den Händen streicht sie immer wieder übers helle Kopftuch. Als wolle sie sich selbst beruhigen.
Die Ungewissheit dauert 18 Jahre. Erst nach Ablauf der offiziellen Strafe hört die Familie von Zeugen, dass Kamel im Gefängnis gestorben sei. Die Behörden dagegen verweigern noch immer jede Auskunft.
Ein Jahr nach der Revolution leitet die Justiz eine Untersuchung ein. Diese bestätigt, dass Kamel bereits zwei Tage nach der Verhaftung gestorben sei. An Verletzungen, die er durch Folter erlitten habe. 2016 wird er amtlich für tot erklärt. Fatmas dringendster Wunsch aber bleibt unerfüllt. Die sterblichen Überreste ihres Sohns zu begraben.
Viele Menschen verschwanden spurlos
Kamel Matmati ist kein Einzelfall. Zu Tausenden wurden in Tunesien während der Diktatur Menschen in ihren Freiheits- und Menschenrechten eingeschränkt. Wurden willkürlich verhaftet, misshandelt, gefoltert – und viele verschwanden spurlos.
Diese öffentlichen Anhörungen seien ein historischer Moment im Prozess der Aufarbeitung von Tunesiens Vergangenheit während der Diktatur, sagt Héla Boujneh vom Internationalen Zentrum für Übergangsjustiz in Tunis. Ihre Organisation beschäftigt sich mit Rechtsfragen, die sich beim Übergang von einer Diktatur zu einer Demokratie ergeben. Erstmals sei öffentlich über die Verbrechen des Staates gesprochen worden – übertragen von Radio und Fernsehen.
Erst der Anfang
Die öffentlichen Anhörungen von Opfern des Regimes sind allerdings nur der Anfang. Die Wahrheitskommission soll alle der über 60'000 eingereichten Dossiers prüfen und den Opfern Gehör schenken.
Im Schlussbericht soll sie dann eine Art Inventar der Menschenrechtsverletzungen durch die Diktatur erstellen. Tunesien habe sich seit der Revolution verändert, sagt Héla Boujneh. Der einstige Präsident Ben Ali sei weg – aber das System noch immer da. Das Risiko von Menschenrechtsverletzungen bestehe immer noch. Auch darum sei die Aufarbeitung der Vergangenheit wichtig.
Ein wichtiges Thema müsste in den kommenden öffentlichen Anhörungen unbedingt zur Sprache kommen, findet die Juristin und Menschenrechtlerin Héla Boujneh: Das korrupte System, dass den Sturz der Diktatur ebenfalls überdauert habe. Damit ist sie nicht allein: Die Korruption gilt heute als eines der grössten Hindernisse für den Wiederaufbau von Staat und Wirtschaft.