«Schon wieder ist alles teurer», sagt Eleonora Farias. In ihrem Einkaufskorb liegen Bananen, Pasta, Tomatensauce: Essen für die fünfköpfige Familie. Doch das mitgebrachte Geld genügt nicht: «Die Preise ändern sich ständig. Manchmal sogar am selben Tag.» Der Ladenbesitzer notiert auf einem Block, wie viel Farias ihm schuldet. «Das mache ich nur bei guten Bekannten», erklärt Manuel Puma. «Denn in ein paar Tagen ist das Geld schon weniger wert.»
Manuel Puma fällt es schwer, die Regale nachzufüllen. Die Einkaufspreise für seine Waren steigen so schnell, dass er sie eigentlich zum Preis von übermorgen verkaufen müsste. Sein grösster Wunsch: «Es braucht mehr Kontrolle von oben, von der Regierung. Wir Händler leiden unter der Situation, denn die Leute ärgern sich über uns.» Sonderangebote gibt es nur bei Barzahlung. Mit diesem Geld in der Kasse kauft der Besitzer schnell Ware nach, bevor diese noch teurer wird.
Nicht alle leiden gleich unter der Inflation
In den Ausgehvierteln in Buenos Aires ist dennoch viel los. Die Gastronomie setzte hier 2022 40 Prozent mehr um als im Vorjahr, Tendenz steigend. Volle Tische trotz Inflation – dafür hat Agustín Bertero, Manager von «La Fuerza», eine Erklärung: «Wer Geld hat, nutzt es für Angenehmes. Sparen lohnt sich nicht. Die Leute wollen nicht sechs Monate warten und sich dann ein neues Telefon kaufen. Sie gehen lieber aus, haben Spass. Das ist Teil unserer Identität: Wir sind nicht gerne deprimiert allein zu Hause. Wenn wir schon leiden, dann zusammen, im Ausgang.»
Eine hohe Staatsverschuldung, Wechselkursschwankungen im Vergleich zum Dollar, strukturelle Probleme: Seit Jahren dreht sich das Preiskarussell, mit vorläufigem Höchststand im Juni bei 115.6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Dass die Politik eine Lösung finden könnte, daran glauben die meisten längst nicht mehr: Weder die Regierung von Alberto Fernández noch sein Vorgänger Mauricio Macri haben die Inflation in den Griff bekommen. Die Gehälter ziehen zwar ein Stück weit mit, doch Steigerungen liegen meist knapp unter der Inflationsrate – und so verlieren Löhne an Kaufkraft, jedes Jahr ein bisschen mehr.
Soziologin: «Mittelklasse hat kaum Zugang zu staatlichen Hilfen»
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Weshalb die Menschen in Argentinien ihr Geld trotz Inflation schnell ausgeben, erklärt Soziologin Carolina Porcari.
Wie gehen die Menschen mit der hohen Inflation um?
Carolina Porcari: Wer wenig Geld hat, hat es schon lange schwer in Argentinien. Viele Menschen erhalten staatliche Unterstützungen. Diese reichen zwar nicht aus, sie bleiben arm – aber sie müssen nicht hungern. Gleichzeitig ist die Solidarität untereinander in ärmeren Gegenden gross: Du baust ein Haus? Ich helfe dir. Niemand hat Geld? Lass uns einen Tauschmarkt organisieren. Die Mittelklasse dagegen hat kaum Zugang zu staatlichen Hilfen und weniger Strategien für gegenseitige Hilfe.
Wie kann es sein, dass die Restaurants trotz Krise voll sind und internationale Konzerte schnell ausverkauft?
Auslandreisen sind für viele zu teuer geworden, genau wie Importprodukte. Wer Geld hat, gibt es lieber schnell aus, bevor es an Wert verliert. Beispiel Nahrungsmittel: Ich mache einen Grosseinkauf im Supermarkt – und wenn die Preise dann steigen, ist es mir egal, ich habe das Produkt ja schon erworben. Viele kaufen auch in Raten: Es gibt staatlich unterstützte Angebote für sechs oder zwölf Raten ohne Zinsaufschlag. Da durch die Inflation alles teurer wird, kaufe ich lieber heute in dem Wissen, dass mein Lohn sicherlich auch bald angehoben wird. Konsumieren fühlt sich gut an. Den Wert der Ersparnisse auf dem Konto schrumpfen zu sehen, nicht.
Warum ist die Situation trotz 115 Prozent Inflation verhältnismässig ruhig?
Die Menschen sind am Limit – aber noch nicht so sehr, wie es etwa in der Krise 2001 der Fall war. Die Inflation steigt seit Jahren an, wir versuchen, damit zu leben. Wir wissen: Die Preise steigen jede Woche. Wenn die Gehälter einigermassen mitziehen, kann ich planen. Dieses Land ist paternalistisch. Es bleibt ruhig, solange es charismatische Führungsfiguren gibt und die Menschen das Gefühl haben: Jemand Starkes lenkt das Land. Das gibt eine gewisse Ruhe, auch wenn ich diese Person vielleicht kritisiere und politisch ein anderes Lager bevorzuge. Es mag im Ausland schwer zu verstehen sein, aber noch gibt es das Gefühl, dass die Situation unter Kontrolle ist. Das kann sich jederzeit ändern, etwa durch einen Schockmoment, zum Beispiel eine plötzliche Abwertung des Pesos.
Unternehmer Marcelo Fernández stellt Reissverschlüsse her. Problematisch für ihn: ständig steigende Preise, Wechselkursschwankungen bei Importen und hohe Kreditzinsen. Doch nicht alles sei negativ: «Grosse Unternehmen können die Preise anpassen, aber uns Kleinen fällt das schwerer. Aber immerhin: Die Nachfrage ist da, wir haben Arbeit. Und das bei einer Inflation, die der Rest der Welt nicht hat und nicht versteht, wie es sein kann, dass wir dennoch Arbeit und keine Rezession haben.»
Eleonora Farias arbeitet als Raumpflegerin, ihr Mann Orlando Silvero hat ein Cateringservice. «Noch kommen wir irgendwie klar», sagt Farias. «Am Wochenende gehe ich auf Tauschmärkte oder verkaufe eingelegte Auberginen, wenn ich von einer kirchlichen Organisation Gemüse geschenkt bekomme.» Die grösste Sorge der Eltern gilt der Zukunft der Kinder. «Die Tochter eines Freundes ist wegen der Krise ins Ausland gegangen», sagt Silvero. «Ich hoffe, meine Kinder finden Chancen hier im Land.»
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