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Ukraine-Krieg «Der Machthaber im Kreml sieht zurzeit ziemlich machtlos aus»

Das hat sich der russische Präsident Wladimir Putin wohl anders vorgestellt: Während er in Moskau mit viel Pomp die vier teilweise besetzten Provinzen im Osten und Süden der Ukraine annektiert, rücken ukrainische Truppen auf die Kleinstadt Liman in der Provinz Donezk vor. Einige Tausend russische Soldaten müssen aus der Stadt fliehen – und seit gestern ist sie wieder unter ukrainischer Kontrolle. SRF-Ukraine-Experte David Nauer schätzt die aktuelle Situation im Donbass ein.

David Nauer

Ukraine- und Russland-Korrespondent

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David Nauer ist Ukraine- und Russland-Korrespondent bei SRF TV. Von 2016 bis 2021 war er als Radio-Korrespondent in Russland tätig. Zuvor war er Russland-Korrespondent des «Tages-Anzeigers». Nauer reist seit Beginn des russischen Angriffskriegs regelmässig in die Ukraine.

Hier finden Sie weitere Artikel von David Nauer und Informationen zu seiner Person.

SRF News: Wie wichtig ist die Einnahme Limans für die ukrainische Offensive im Donbass?

David Nauer: Militärisch ist die Einnahme wichtig, weil Liman ein Verkehrsknotenpunkt ist. Mit dem Fall von Liman ist für die Ukrainer der Weg frei, um weitere Gebiete im Norden des Donbass zu befreien – und das tun sie auch: Sie stossen bereits auf weitere Ortschaften vor. Die Kämpfe haben sich bereits mehrere dutzend Kilometer nach Osten verlagert. Aber die Befreiung von Liman hat für die Ukraine auch eine wichtige politische Bedeutung, da die Stadt zum Gebiet Donezk gehört. Ein Gebiet, das Putin am Freitag annektiert hat. Nun weht aber über der Stadt die ukrainische Flagge – das tut der ukrainischen Seele natürlich gut. 

Kaum hat Putin die vier besetzten ukrainischen Provinzen annektiert, muss Russland bereits eine Niederlage einstecken in eben dem Gebiet, das man sich auf dem Papier einverleibt hat. Wie bewerten Sie das?

Die Ukrainer zeigen mit dieser Rückeroberung quasi dem Kreml einen riesig grossen Mittelfinger. Die Botschaft ist: Uns ist egal, was ihr auf dem Papier annektiert, das Gebiet ist ukrainisch und wir holen es uns zurück. 

Putin hat diesen Krieg begonnen, er hat alles auf diesen Krieg gesetzt, wenn er ihn verliert, dann verliert er seine Macht.

Für Putin ist die Niederlage seines Militärs eine grosse Peinlichkeit. Wenn man so will, haben die Ukrainer soeben die erste Stadt zurückerobert, die Putin für eine «russische Stadt» hält. Der Machthaber im Kreml sieht dadurch zurzeit ziemlich machtlos aus. 

Was löst die Niederlage bzw. die Flucht aus Liman in Russland aus?

Eine heftige, gehässige Debatte. Rechtsnationale Kreise sind verbal auf das Verteidigungsministerium losgegangen. Der Tenor war: Die Generäle bis hin zum Verteidigungsminister seien unfähig, gehörten abgesetzt. Aus dem Umfeld des Militärs wurde umgehend verbal «zurückgeschossen». Es hiess, diejenigen, die nun das Militär kritisierten, seien schlimmere Feinde als die Ukrainer.

Was wir hier sehen: Es gibt einen massiven Konflikt zwischen verschiedenen Gruppen des russischen Sicherheitsapparats. Dass es diesen Konflikt gibt, wusste man schon lange. Dass er aber nun öffentlich ausgetragen wird, ist neu und zeigt, dass die Nerven in Moskau blank liegen.

Dieser Konflikt im russischen Sicherheitsapparat: Kann dieser zur Gefahr werden für Präsident Putin?

Ich denke, noch nicht. Das heisst: Für Putins persönliche Macht ist dieser Konflikt noch nicht gefährlich. Aber wenn die Ukrainer weiter vorrücken, wenn sie weitere Städte befreien, dann werden die Kritiker schon irgendwann fragen, warum der Oberkommandierende der Streitkräfte, also der Präsident, nichts tut. Und dann könnte es für Putin durchaus gefährlich werden. Denn er hat diesen Krieg begonnen. Er hat alles auf diesen Krieg gesetzt, wenn er ihn verliert – diese Prognose wage ich mal – dann verliert er höchstwahrscheinlich auch seine Macht.

Das Gespräch führte Matthias Kündig.

Echo der Zeit, 02.10.2022, 18:00 Uhr ; 

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